Radius im «Radius»: 50 Kilometer. Stefan Beer ist nach schwerem Velounfall zurück am Herd und setzt im «Radius» im Victoria-Jungfrau in Interlaken um, was wohl sein kulinarisches Vermächtnis sein wird. Er beweist, dass man auch in einem Luxushotel weitgehend ohne Luxusprodukte kochen kann. Der eigentliche Luxus besteht darin, dass alle Produkte gewissermassen vor der Haustüre wachsen. Im eigenen Garten, bei kleinen, engagierten Produzenten, die Scout Beer in einem Radius von 50 Kilometern entdeckt und für seine Mission gewinnt. Der Rest ist Kreativität, Fleiss und Storytelling: Die Hotelgäste (im «Victoria-Jungfrau» vorwiegend aus dem Ausland) nehmen fasziniert und oft auch etwas fassungslos zur Kenntnis, was ihnen der Chef da auftischt; Beer übernimmt die Ansage wenn immer möglich persönlich.
Frühsommerliche Vorspeise: grüne Spargeln mit Wattenwiler Saftschinken.
Eine Crème, zubereitet aus dem Fischbauch. «Z’Menü Vo Hie» (gibt’s auch vegan!) ist Aufwand total. Zeigt sich bereits beim Amuse-bouches: Bachsaibling roh mariniert, Kräuter aus dem Garten, Buttermilch, Schnittlauch-Öl, Sauerklee, eine sanfte Crême, zubereitet aus dem Fischbauch, Rhabarber für die Säure. Schon fast ungerecht: Die Brigade arbeitet für diesen Starter stundenlang, der Gast putzt ihn in einem Bissen weg. Allerdings bleibt die schöne Erinnerung: angenehm im Gaumen, unglaublich frisch. Dann gibt es etwas Kochunterricht: Was sind die Komponenten einer perfekten Tatar-Sauce? Wir kriegen den Klassiker in seine Einzelteile zerlegt: Ein noch etwas flüssiges Wachtelei, eingelegte Essiggurken, Bärlauch-Kapern, eine leichte, flüssige Mayo. Und mittendrin die Hauptdarsteller: Grüner Spargel, eingewickelt in Wattenwiler Saftschinken. Eine Spargel-Allergie darf man bei diesem Menü nicht haben. Die Stangen liegen immer wieder im Teller. Mal grün, mal weiss – und immer aus der Region.
Frisch aus dem See: Hecht-Agnolotti mit gepickelter Wassermelone.
Hausfischer Marco Gurtner holt den Hecht aus dem Brienzersee.
Sandras Güggeli: Brust und Roulade aus Schenkelfleisch mit Safran und Zitronenthymian.
Am Morgen gefangen, am Abend im Agnolotti. Steht Sarah Tombolelli aus Civitavecchia in der Küche, dürfen Ravioli und Tortellini nicht fehlen. Zwei der drei Varianten, die gerade im Repertoire sind, haben uns beeindruckt. Allen voran das Wagyu-Raviolo. Beer kauft bei Thomas Mühlemann in Schwarzenegg BE das Schulterstück vom vierjährigen Rind ein, schmort es geduldig und peppt die Sauce noch mit etwas Wagyu-Fett auf. Dann holt er Verstärkung in der Hauptküche des Hotels: Der junge Koreaner Young Gi arbeitet dort und tüftelte im Auftrag des 17-Punktechefs an einer eigenen, einem europäischen Gaumen zumutbaren Kimchi-Sauce; eingelegte Himbeeren sind Basis für den Essig dazu. Variante 2 entstand ziemlich spontan: Hausfischer Marco Gurtner holte um 08.30 Uhr einen Hecht aus dem Brienzersee, informierte Stefan Beer per WhatsApp. Der fuhr sofort los, um 10.30 Uhr war der Deal perfekt. Und abends gab’s dann elegante Hecht-Agnolotti. So geht das im «Radius».
Im Radius drin: Oona Kaviar & Aemme Shrimps. «Kilometer 50» ist (nicht ganz zufällig!) gut gewählt. Da passen auch zwei edle Produkte aus der Umgebung gerade noch rein: Oona Kaviar und «Aemme Shrimps». Der Oscietra aus Frutigen liegt auf einer Sigriswiler Lachsforelle, auf weissem Spargel aus Kirchdorf und auf einer Spargelmousseline. Die vierte Komponente können wir nicht zuordnen, aber der Chef klärt auf: Gelierter Fond von Aemme Shrimps, für etwas mehr Power im Teller. Den Krebs aus Burgdorf (Radius 46 Kilometer) kriegen wir auch noch, an einer ziemlich gewagten Sauce aus Ingwer und Rhabarber vom eigenen Garten. Die Krebse vom «Eyhof» sind von stattlichem Kaliber und angenehm knackig; die Familie Kunz (9. Generation) macht mit dem Zehnfüssler im umgebauten ehemaligen Schweinestall einen Superjob und mischt den Schweizer Markt ganz schön auf.
Sandras Güggeli leben länger. Güggeli im Hauptgang – geht das in einem Luxushotel? Geht prima, denn es handelt sich um ganz besondere Güggeli: Sandra Gertsch zieht sie in Einigen in märchenhafter Umgebung auf und gönnt ihnen eine ungewohnt lange Lebenszeit von 100 Tagen. Der Chef serviert die elegant herausgeschnittene Brust, formt das Schenkelfleisch zu einer eleganten Roulade und hat natürlich auch für dieses Gericht zwei kleine Geheimwaffen auf Lager: Safran aus Konolfingen (!), Zitronenthymian aus dem eigenen Garten. Spargel, in der Pfanne leicht angebraten, liegt auch noch im Teller. Wir notieren: Es reicht so langsam mit dem Spargel.
Das «Radius»-Team von Chef Stefan Beer tüftelt an der passenden Weinbegleitung zum Menü «vo Hie».
Traum-Chardonnay von den «Narrenkappen». Stefan Beer ist der Star im «Radius», aber er kann sich auf starke, hochmotivierte Mitarbeiter verlassen. Der junge Pâtissier Patrick Mumenthaler gehört dazu (fermentierte grüne Erdbeeren, süss-saures Sorbet, Waldmeister aus dem Garten). Und natürlich auch das Sommelier-Team um Torsten Noack. Auch hier gilt: Nur Weine aus dem Kanton Bern werden entkorkt. Die zwei Volltreffer in der ausgedehnten Weinbegleitung: Der geniale Chardonnay «Les Deux» Bonnet du Fou («Narrenkappen») von Manuel Schneiter und Thomas Thürig und der verblüffende «Coplantation», die neueste Kreation der eigenwilligen Bielersee-Winzerin Anne-Claire Schott. Sehr freundlicher, kompetenter Service.
Das Victoria-Jungfrau im Hoch. Das Hotel, das zur «Michel Reybier Collection» gehört, ist in guter Verfassung. Der Umbau ist weitgehend abgeschlossen, auch die berühmte, zurückhaltend eingerichtete Turmsuite erstrahlt im neuen Glanz. Ein Spa-Facelifting steht unmittelbar bevor. Der junge General Manager Nico Braunwalder will auch die Einheimischen rein ins Grandhotel holen. Das italienische Ristorante «Sapori» haben die Interlakner längst entdeckt. Jetzt freuen sie sich über die Neueröffnung des «La Terrasse»: Brasserie statt Luxusrestaurant, tiefere Preise, grosszügige Terrasse