Fotos: Ye Fan
Eine Küche wie New York. Um 13 Uhr wirkt die Küche in Daniel Humms «Eleven Madison Park» (EMP) ein wenig wie ein weiss gefliestes Abbild von New York. Es ist laut, Mixer heulen wie die vielen Baumaschinen in den Strassen, und man kann schnell die Übersicht verlieren in den Menschenmassen. Ein bunter Multikulti-Mix arbeitet hier auf engem Raum zusammen. Wobei die Enge relativ ist: Die Küche ist riesig, weil aber jetzt rund 40 Köchinnen und Köche gleichzeitig ihren Vorbereitungsaufgaben nachgehen, ist der Platz beschränkt. Eine der vielen Regeln ist deshalb, dass man beim Herumgehen jeweils «back» sagt, sobald man im Rücken von jemandem steht, oder «Corner», falls man um eine Ecke biegt, um Zusammenstösse zu vermeiden. Insofern geht es hier etwas rücksichtsvoller zu als draussen in den Strassen von Manhattan.
Ordnung muss sein: Praktikant David Schnapp sortiert zugeschnittene Löwenzahnblätter.
Löwenzahn zum Start. Mein Platz ist zum Start der Schicht an einem schmalen Stück Edelstahl, wo ich Löwenzahnblätter in Form bringen soll. Diese Zutat findet man vermutlich nicht in vielen Drei-Sterne-Restaurants der Welt, aber weil das EMP seit 2021 nur noch pflanzenbasierte Gerichte serviert, ist das ein durchaus symbolträchtiger Einstieg. Löwenzahn ist gewiss keine besonders edle Zutat, aber sie bekommt einen Wert durch die Art, wie sie hier behandelt wird. Nach dem die Blätter mit einer Schere entlang einer Schablone in ovale Formen geschnitten sind, habe ich sie in Stapeln von zehn Stück abzulegen. Später dann werden sie kurz auf dem Kontaktgrill gebraten und beim Anrichten über grillierten, gehackten Löwenzahn gelegt, der wiederum neben Romanesco liegt, der auf einem Maisteig (Masa) gebacken wird.
Hauptgang im Frühlingsmenü: Masa mit Romanesco, Mole-Sauce und Löwenzahn.
100 Köche. Rund 200 Menschen arbeiten im EMP, zum «Besten Restaurant der Welt» (2017) gehört seit Herbst 2024 auch die Clemente Bar und das Clemente Studio. Rund 100 Köche sind hier beschäftigt. Die ersten beginnen morgens um 6 Uhr, das Restaurant ist sieben Tage geöffnet und nur wenige Stunden ist es in der Küche ganz still. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an die Organisation. Plötzlich ertönt ein lauter undefinierbarer Ruf. Sofort werden alle Tätigkeiten gestoppt, jetzt müssen die Arbeitsflächen erst einmal gereinigt werden. Dies passiert vier- bis fünfmal pro Tag und ist Teil des Regelwerks. Aber die Küche ist nicht nur gross, sie ist auch leistungsstark, rund 120 bis 150 Menüs auf höchstem Niveau werden hier jeden Abend zubereitet, wobei es für die «Clemente Bar» eine eigene Küche gibt. Die Köche arbeiten in einer klassischen Aufgabenteilung: Auf der einen Seite des Raumes sind die Stationen für kalte Vorspeisen (Garde Manger) und Desserts (Patisserie) und auf der anderen Seite, rund um den massgefertigten weissen Molteni-Herd, für die warmen Hauptgänge. Was zuvor Fisch und Fleisch war, ist jetzt «East and West» – nach Vorbild des New Yorker Strassensystems.
Bevölkert wie Manhattan: rund 100 Köche arbeiten im «Eleven Madison Park».
Eines von vielen Ritualen: vier bis fünfmal täglich wird die Küche gereinigt.
«100 Prozent meine Gerichte.» In Bezug auf seine eigene Rolle in der Küche sagt Daniel Humm, «ich bin heute mehr CEO als Koch». Das sei zu Beginn schwierig gewesen, weil er immer ein schlechtes Gewissen gehabt habe, nicht mit seinen Leuten am Herd zu stehen. Mittlerweile habe er seine neue Rolle aber akzeptiert. Immerhin arbeiten insgesamt rund 300 Leute für Humm. Im Herbst 2026 ist die Eröffnung eines neuen, grossen Restaurants in New York mit Bar, Private Dining und Lounge geplant. «Dann werden es rund 500 Angestellte sein», sagt der 48-jährige Schweizer. Trotz allem, was im EMP serviert wird, sind «100 Prozent meine Gerichte», so Humm. Drei Leute arbeiten im «Research and Development» an der Entwicklung neuer Menüs, einmal pro Woche trifft sich Daniel Humm mit den wichtigsten Führungskräften in der Küche, um alles, was neu entsteht, zu probieren und in die gewünschte Richtung zu lenken.
Hier wird scharf geschnitten: Sous-Chef Luis Garcia und Autor Schnapp bearbeiten Kartoffeln.
So soll es aussehen: die eingeschnittene Kartoffel.
Geschliffene Kartoffeln. Küchenchef Dominique Roy, der seit 2021 Humms Statthalter ist, schickt mich jetzt in den «Westen». An der Seite von Sous-Chef Luis Garcia soll ich Kartoffeln einschneiden. Was simpel klingt, ist natürlich – wie alles hier – anspruchsvoll. Die Gerichte von Daniel Humm sind nur scheinbar minimalistisch, tatsächlich ist damit ein gut verstecktes, enormes Mass an Arbeit, Aufwand und Detailversessenheit verbunden. Und erst in Kochjacke- und Schürze, mitten in dieser grossstädtisch vibrierenden Küche, lässt sich das wirklich nachvollziehen. Die Kartoffeln werden erst in Form gebracht und dafür mit der rauen Seite eines Schwamms gewissermassen abgeschliffen. Vier bis fünf Leute arbeiten stundenlang daran. «So sähe eine Kartoffel aus, wenn die Natur perfekt wäre», sagt Daniel Humm dazu lachend. Die Aufgabe von Luis und mir ist es dann, die Erdäpfel im Abstand von etwa einem Millimeter einzuschneiden wie Hasselback-Potatoes. Eine Schablone verhindert, dass der Schnitt die ganze Kartoffel zertrennt, und mit meinem neuen japanischen Messer aus Kohlenstoffstahl bin ich für diese Aufgabe gut gerüstet. Vor lauter Konzentration auf die Aufgabe vergesse ich, mitzuzählen, aber 30 bis 40 Kartoffeln dürfte ich geschafft haben. Zwei sortiert Luis aus, weil die Abstände zwischen den Schnitten zu gross sind. Das scheint mir als Neuzugang eine akzeptable Quote. Später werden die Kartoffeln gesalzen, erst konfiert, dann gebacken und schliesslich zweimal bei 180 Grad in einem Öl, das aus Mikroalgen gewonnen wird, frittiert. Zwischen einzelne Lagen wird dann eine Knoblauchcreme gegeben und gewürzt wird zum Schluss mit einem Pulver aus Essig, geräucherten Kartoffelchips und getrockneten Pilzen. Auf den Teller kommen ausserdem Kartoffelpüree, marinierter Tonburi («Kaviar des Feldes») und vegane Algen-Creme.
Das fertige Gericht: konfierte, frittierte Kartoffel mit «Kaviar des Feldes», Kartoffelpüree und Algen-Creme.
Zeit für Meetings. Jetzt aber steht ein Küchenmeeting an. «Happy Thursday!», sagt Dominique Roy, «Happy Thursday!», schallt es einstimmig in enormer Lautstärke zurück. Der Küchenchef weist auf Fehler von letztem Abend hin, offenbar wurde zu wenig «Mise en Place» vorbereitet. Ein Koch wird unter Applaus an seinem letzten Arbeitstag verabschiedet und der Gast aus der Schweiz vorgestellt. Danach gehen die Verantwortlichen in Küche und Service in einem weiteren Meeting die Gästeliste des Abends durch: Ein Paar hat am Morgen geheiratet und feiert den Tag im EMP, ein Hochzeitsantrag ist angekündigt, ein koscherer Tisch, jemand ist allergisch auf Datteln und Kiwis, es werden unter anderen ein Wein-Influenzer und eine Schauspielerin erwartet. Jeder Gast wird am Tag vor der Reservierung «gegoogelt», damit man die Gäste schon beim Betreten des Restaurants mit Namen begrüssen kann.
Meeting vor dem Service: Küchenchef Dominique Roy.
Hochzeiten und VIPs: der Service geht durch die Gästeliste des Abends.
Bohnen und «Tasting». Kurz danach beginnt das «Tasting»: Jedes Gericht wird jeden Abend von Küchenchef Roy im Ganzen probiert. Während in den meisten Küchen die Chefs lediglich einzelne Komponenten oder Saucen testessen, legt man hier Wert darauf, dass der Teller so präsentiert wird, wie ihn die Gäste später vorgesetzt bekommen. Ich bin kurzzeitig auf den Garde-Manger-Posten gewechselt, wo Fava-Bohnen sortiert und gerüstet werden wollen. Die schlechten, gelblich verfärbten, kommen ins Kröpfchen, die guten grünen ins Töpfchen. Währenddessen isst Dominique Roy ein Gericht aus verschiedenen Erbsensorten und ebendiesen Fava-Bohnen, einen Salat-Snack oder ein Karotten-Tatar und hat einiges an Verbesserungswünsche. Saucen sind zu stark gebunden, irgendwo stimmt die geschmackliche Balance nicht, es fehlt an Salz, Zucker oder beidem. Die verantwortliche Sous-Chefin, Pooja Harsora, muss ihre Leute zur Disziplin mahnen und nachbessern.
Die Guten ins Töpfchen: der Praktikant sortiert und rüstet Fava-Bohnen.
Kontrolle ist gut: Küchenchef Roy prüft die Viskosität einer Sauce.
Viele Frauen in der Küche: Sous-Chefin Pooja Harsora.
«Family Meal.» Jetzt ist Zeit für das «Family Meal», auch das gehört zum Ritual. Jede Station bereitet für die Kollegen ein Gericht zu, es gibt Salat, Fladenbrot, Curry, gebackenen Blumenkohl und Bratkartoffeln, eine Erdbeertarte und hausgemachte Eistees. Viel Ruhe zum Essen bleibt nicht, aber dennoch hat die gemeinsame Mahlzeit einen besonderen Charme, weil sie mit Liebe zubereitet ist. Danach geht das «Tasting» weiter, nun sind die warmen Gerichte dran, Dominique Roy prüft selbst jede einzelne Kartoffel vor dem Frittieren auf ihren Gargrad. Es sei sehr wichtig, dass die Leistung der Küche konsistent sei und möglichst keine Schwankungen vorkommen, sagt er. Eine Sauce soll etwas flüssiger sein und der Küchenchef verlangt «more Umami».
Einsatz für das Team: zwei Patisserie-Mitarbeiterinnen bereiten eine Beeren-Tart für das «Family Meal» vor.
«Fire three soba!» Um 17 Uhr ist meine Schicht zu Ende. Im Service, der um 17.30 Uhr beginnt, stören Praktikanten bloss. Aber ich bin eingeladen, das Geschehen am Pass zu verfolgen. Die Energie in der Küche hat sich vollständig geändert, der Lärmpegel ist deutlich gesunken, nun ist Fokussierung und Rhythmus gefragt. Den Takt gibt der Küchenchef vor. «Ordering two tops!», ruft er, womit alle wissen, dass zwei Gäste das Menü bestellt haben. Ein sehr lautes, einstimmiges «Oui!» donnert als Antwort zurück. Am Pass steht neben dem Küchenchef ein früherer Koch, der für das «Expediting» zuständig ist. Er verwaltet die Bestellungen und sorgt dafür, dass das Menü aus Gästesicht im perfekten Fluss serviert wird. «Fire three soba!», sagt er dem Sous-Chef in der «East»-Line, worauf dieser drei Portionen der Pilzsuppe mit Buchweizen-Sobanudeln anrichtet. Währenddessen warten Serviceleute diszipliniert in einer Reihe, um die Gerichte aufzunehmen und sofort in den Saal zu tragen. «Es gibt dieses Restaurant wegen der Gerichte. Da kann es nicht sein, dass die Teller auf den Service warten müssen», sagt Daniel Humm. In den meisten Restaurants ist es umgekehrt: Die Teller werden fertiggestellt, dann wird der Service gerufen. Oft kommt es zu Konflikten, wenn die Kellnerinnen und Kellner nicht schnell genug sind. Dieses Problem gibt es im EMP nicht, «wir haben genügend Leute», sagt Humm lapidar. Für immerhin ein paar Stunden einer davon gewesen zu sein, ist eine Erfahrung, die ich mir im Gedächtnis einrahme.