Text: Anita Lehmeier Fotos: Sedrik Nemeth
Im Reich der Binna. Ein bemerkenswertes Fleckchen Erde, dieses Binntal. Das Hochtal auf 1500 Metern oberhalb von Fiesch punktet mit all dem, was überall sonst als Manko gälte. Hier oben gibts keine spektakulären Bahnen, keine schicken Wellnesstempel oder Luxusherbergen, keine Action, kein Nightlife, weder Promis noch Party noch Hotspots. Das Binntal glänzt mit der Abwesenheit von gängigen Tourismus-Attraktionen, und genau darin liegt seine Anziehungskraft: Hier oben gibts einfach nur unverbaute Landschaft, bausündenfreie Dörfer mit verwitterten Holzhäusern, prächtige Mischwälder, grüne Wiesen mit Kühen, die noch Hörner tragen und ihre Kälber säugen dürfen. Natur pur, wohin man auch blickt. Blendet man noch die Handyantenne aus, siehts hier so idyllisch aus wie vor fünfzig Jahren. Die Strassen sind zu so vielen Haarnadelkurven gewunden, die Dörfer so eng verschachtelt, dass selbst Auswärtige mit ihren schnittigen SUVs auf Schritttempo abbremsen müssen. Entschleunigung, diesen von der urbanen Highspeed-Gesellschaft so hochgepriesenen Freizeitzustand, muss man im Binntal nicht suchen, die holt einen ganz von selber ein, von Natur aus. Nachts ist es nebst dem leisen Gurgeln der Binna so still, dass man meint, die Sterne summen zu hören. So hell und nah erscheinen sie nur hier oben.
Albrun für «Gerngutesser». Wandervögel und Birdwatcher haben diesen Flecken schon lange für sich entdeckt. Auch Strahler, die ihr Augenmerk auf verborgene Preziosen richten. So einen verborgenen Schatz hat jüngst auch eine ganz andere Art von Naturliebhabern entdeckt: die Drinnenhöckler und Gerngutesser. Ihr Ziel: das Restaurant Albrun in Binn. Hier steht Mario Inderschmitten seit drei Jahren am Herd, im Frühsommer verlieh der GaultMillau seiner Küche gleich 14 Punkte. Normalerweise steigen Jungtalente mit 12 Punkten beim renommierten Gourmetführer ein. Und im Guide 2018 ging’s wieder hoch: Note 15! Ein Grund zur Freude bei Inderschmitten, aber kein Grund abzuheben. Bei unserem Besuch im «Albrun» treffen wir einen introvertierten, wortkargen Koch an, der lieber seine Kreationen für sich sprechen lässt, als dass er grosse Worte darüber verliert. Ein echter Binntaler eben, ruhig, geerdet, unaufgeregt, so ganz anders als die Riege junger «Rockstars», die in den Städten für Aufsehen in der Gourmet-Gemeinde sorgen. Das einzig Hippe an ihm ist ein Goatie, den man hier im Binntal Geissbärtli nennt. Nur von seiner Website, nicht von ihm persönlich, erfahren wir, wie super dieser Mario in seinem Metier ist. Er war Kantonsbester bei der Kochlehre und der Zusatzlehre als Konditor-Confiseur sowie jüngstes Mitglied der Kochnationalmannschaft, er holte Höchstwertungen als Patissier an Koch-Weltmeisterschaften und Olympiaden und den Titel Youngster des Jahres 2012.
Die Kinder sollen im Binntal aufwachsen! Statt Starallüren hat Inderschmitten nur noch mehr Ehrgeiz entwickelt, stetig besser zu werden. «Und das wird man nur durch Fleiss und Kreativität, jeden Tag von Neuem», weiss der stille Schaffer am Herd. Als Töchterchen Marilou auf die Welt kam, hat er sogar seine geliebte E-Gitarre an den Nagel gehängt. «Und da wird sie weiterhin verstauben», meint seine Frau Laetizia, Hotelfachfrau aus dem Elsass und bald zweifache Mutter, schmunzelnd. Kennengelernt haben sich die beiden im Job. Die Familiengründung war es dann, die den Binntaler nach den Lehr- und Wanderjahren wieder nach Hause zog. «Als die Frage nach der Familienplanung auftauchte, meinte Mario nur, er wünsche sich, dass unsere Kinder im Binntal aufwachsen», erzählt Laetizia. So übernahm das Paar das «Albrun» in Binn, wo schon Marios Eltern jahrzehntelang Gäste bewirtet und beherbergt hatten.
Egli aus Raron, Lamm aus dem Goms. So tief verwurzelt in seiner Heimat der Aufsteiger ist, so präsentiert sich auch seine Küche. Inderschmitten schöpft bei den regionalen Produkten aus dem Vollen, in seine Küche kommt das Beste, was das Wallis zu bieten hat: Medaillons vom Schwarznasenschaf, Eglifilets aus Raron, Lammleber aus dem Goms, Grauvieh vom Nachbarn, Käse von den Alpbetrieben des Aletschgebiets, Birnen, Steinpilze, Gemüse und Tannenschösslinge aus dem Binntal, Wild aus heimischer Jagd, der rare Safran aus Mund, alles begleitet von Walliser Weinen, abgerundet von Walliser Bränden. Nur ein für Inderschmitten wichtiges Produkt kommt aus der Üsserschwiiz, die Schokolade. Die holt der passionierte Patissier von der Dessert-Abteilung in der Menüabfolge gern nach vorne. Zum Beispiel beim Rindsrücken Black Forest. Hier kombiniert er zum niedergegarten Edelstück vom Angusrind alles, was in einer Schwarzwäldertorte mitmacht: Kakao, Rahm (als Panna cotta), süsse und saure Kirschen (als Gel, Sorbet und Kompott), ein vielschichtiges Zusammenspiel, ein Füllhorn von Aromen, Temperaturen und Texturen. «Ich will meine Gäste überraschen, ihnen etwas Neues, Frisches bieten. Raclette und Käseschnitte bekommen sie auch anderswo», erklärt der Tüftler.
«Bleu du Valais Crème brulée». Inderschmitten zeigt uns das Rezept seiner ebenfalls selbst entwickelten Vorspeise namens Bleu du Valais Crème brulée. Die gebrannte Creme, ein Klassiker aus der süssen Küche, variiert er zu einer salzigen Version, mit Blauschimmelkäse und Steinpilz, kombiniert mit Apfelconfit und frischer Pimpernelle, gereicht mit einem flauschigen Briochezöpfli und knackigem Cracker. Bei der Zubereitung offenbart sich uns dann Inderschmittens grosse Qualität: seine wortlose Hingabe und Präzision bei jedem einzelnen Zubereitungsschritt, die stumme Konzentration einem Chirurgen gleich und über allem die helle Freude, die in seinen Augen blitzt, wenn er die einzelnen Komponenten zu einem Bild von Teller arrangiert. Wie wundervoll es in der «Albrun»-Küche jetzt duftet!