Fotos: Julie de Tribolet
«Sonst fühle ich mich unvollständig.» Der Händedruck ist fest, die Kochjacke und die locker 30 Zentimeter hohe Toque leuchten blütenweiss. Würde man die Stichworte «Franzose», «Küchenchef», «jung» und «dynamisch» in ein KI-Grafikprogramm eingeben, käme ein Bild heraus, das dem von Jérémy Desbraux verblüffend ähnelt. Doch was bedeutet die Kochmütze für Desbraux, den Chef der «Maison Wenger» in Le Noirmont JU? Eine Demonstration klassischer Werte, Autorität? «Die Toque symbolisiert für mich ganz einfach den Übergang von der Privatperson zum Küchenchef. Wenn ich sie im Restaurant nicht trage, fühle ich mich unvollständig», erklärt der 39-Jährige mit einem Lächeln. Bild oben: Jérémy Desbraux und die Forelle mit Zitronenverbene.
Dirigent eines stillen Orchesters. Die Brigade in der «Maison Wenger» arbeitet so gut abgestimmt und konzentriert wie ein Spitzenorchester. Desbraux ist der Dirigent dieses stillen Orchesters, hat alles im Blick, probiert, schmeckt ab, annonciert und gibt den Tellern am Pass seinen Segen, bevor sie die Küche verlassen. Von der Table d’hôte, dem «Chef’s Table», wie es auf Neudeutsch heisst, hat man einen perfekten Ausblick auf den Pass und den grossen Herd in der Mitte der Küche. 13 Köchinnen und Köche arbeiten hier, viele seit Jahren. Élena Deglaire, Desbraux’ rechte Hand, schon seit dem ersten Tag. Die Saucenpfännchen stehen in Reih und Glied; der Duft, der aus ihnen emporsteigt, weckt die Neugier auf das Kommende.
Sie prägen die «Maison Wenger»: Jérémy Desbraux mit seiner Frau Anaëlle Roze, die ausgebildete Köchin ist und sich an der Front um die Gäste kümmert.
Volle Saucenkännchen, glückliche Gesichter. Desbraux ist das, was man salopp einen «Saucengott» nennt. Der von seiner Frau Anaëlle Roze geführte Service trägt diesem Umstand Rechnung, indem er zu jedem Gericht ein ganzes Kännchen der kostbaren Essenzen reicht. Und es gibt kaum Gäste, die der Versuchung widerstehen können. Links und rechts sieht man, wie Menschen mit glücklichen Gesichtern Sauce auf den dafür bestimmten Löffel fliessen lassen und diesen anschliessend genüsslich durch den Mund ziehen. Ironie der Geschichte: Lenya, die sechsjährige Tochter von Jérémy und Anaëlle, mag keine Saucen. Weder zu ihrer geliebten Pasta noch zum Fondue Chinoise. «Höchstens ein wenig Mayonnaise akzeptiert sie. Sie ist der Meinung, die Sauce verändere den Geschmack einer Speise zu sehr», sagt der Papa.
Desbraux verfeinert seine Artischocken à la Barigoule mit Waldmeister aus den Franches-Montagnes.
Die prächtigen Steinpilze werden einzeln mit einem feuchten Tuch gesäubert, bevor sie in die Pfanne kommen.
Zu den knackigen Bohnen aus dem Kanton Waadt gibt es eine erfrischende Sauce mit Tannenschösslingen.
Der Kanton Jura auf dem Teller. Dass er von seiner elfjährigen Tätigkeit im «Hôtel de Ville» in Crissier geprägt ist, kann und will der 39-jährige Desbraux nicht leugnen. Trotzdem kocht er sehr eigenständig – und legt grossen Wert darauf, neben der Saison auch den Kanton Jura auf dem Teller abzubilden. Zum Beispiel in Gestalt einer sanft gegarten Forelle, die einen Tag zuvor noch in Quellwasser aus den Franches-Montagnes schwamm und sich nun an einen mit Zitronenverbene parfümierten Fumet schmiegt. Das Hauptprodukt ist bei Desbraux stets der unumstrittene Star auf dem Teller. Den übrigen Komponenten – selbst der Sauce – kommt die Aufgabe zu, den Star noch heller scheinen zu lassen. Nur an wenigen Orten findet man eine Küche von einer solchen Geradlinigkeit und Klarheit.
Miguel Valerio und Élena Deglaire krönen ihren Chef symbolisch zum «Koch des Jahres».
Mädesüss gibt dem Überraschungsei mit hinreissender Pilzsauce eine ganz spezielle Note. À part werden Pfifferlinge gereicht.
Pilze & Mädesüss – traumhaft! Fühlt sich Desbraux, der in Belfort aufgewachsen ist und seit 2019 in Le Noirmont wirkt, heute mehr als französischer oder als jurassischer Koch? «Ich bin ich auch nach 17 Jahren in der Schweiz ein französischer Koch geblieben, die Küche von Bocuse oder den Brüdern Troisgros ist für mich die Referenz. Was ich in unserem Restaurant auf die Karte setze, ist aber zunehmend geprägt vom Jura. Ich liebe zum Beispiel Meeresfrüchte, serviere sie aber nur noch selten, weil sie eigentlich nicht hierher gehören», führt er aus. Dass sich die Logistik an einem so abgelegenen Ort wie Le Noirmont weit komplizierter gestaltet als in Zürich oder Basel, ist ein weiterer Grund, Zutaten aus der Region zu bevorzugen. «Wir haben hier unter anderem Butter und Eier von einzigartiger Güte. Beides Produkte, die mir besonders am Herzen liegen», betont Desbraux. Ein Überraschungsei gehört immer zum Menü. Bei unserem Besuch ist es mit Pfifferlingen und einer traumhaften Sauce mit Steinpilzen mit einem Touch Mädesüss veredelt. Wer braucht da einen eingeflogenen Hummer?
Willkommen in Le Noirmont: Ein Passant läuft ins Gruppenbild, das «Maison Wenger»-Team nimmt es gelassen.
Viele Grosse Chefs haben ihn geprägt. Die Liste der grossen Chefs, mit denen der «Koch des Jahres 2026» zusammenarbeiten durfte, ist lang: Etienne Krebs, Gérard Rabaey, Anne-Sophie Pic, Philippe Rochat, Benoît Violier und schliesslich Franck Giovannini. «Ich habe von allen etwas mitgenommen. Von Krebs die Erkenntnis, dass man Berufs- und Privatleben in eine gute Balance bringen kann, von Rabaey die Kompromisslosigkeit beim Einkauf, von Pic die feminine Präsentation, von meinen drei Chefs in Crissier Disziplin und technische Exzellenz», bilanziert er. Spricht Desbraux von Violier, wird er nachdenklich: «Sein Suizid vor fast zehn Jahren war entsetzlich. Doch ich sagte mir: Du musst weitermachen, dich auf deine Arbeit konzentrieren. Und das habe ich getan.» Beruflich verdanke er Violier eine Menge: «Wenn ich mich auf einen Wettbewerb vorbereitete, kam er auch am Wochenende aus seiner Wohnung in die Restaurantküche hinunter, probierte die Gerichte und gab mir Ratschläge. Er war immer da.»
Der frisch gebackene «Koch des Jahres» hat die Liebe zum Brotbacken geerbt. Sein Vater war Bäcker.
Die Verwandlung nach dem Service. Ist der Service vorbei, setzt der Küchenchef der «Maison Wenger» seine Toque ab und verwandelt sich in den Familienvater Jérémy Desbraux. Der ist längst nicht so streng. «Wie könnte ich auch?», fragt Desbraux und streicht seiner Tochter liebevoll über das Haar. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit seiner Frau, der kleinen Lenya und seinem Bruder Florian, der im Restaurant als Pâtissier arbeitet, sind für Desbraux wichtige Inseln im Alltag und helfen ihm, zwischendurch zu entspannen. An freien Tagen verbringt er seine Zeit am liebsten mit dem Töchterchen, zum Beispiel in den Wäldern entlang des Doubs, einer mystischen Landschaft, die im Herbst zwischen Nebelschwaden und goldenem Sonnenschein oszilliert. Im Frühling sammeln Desbraux und seine Köche hier Tannenschösslinge, die – zu einer Mousseline mit feiner Säure verarbeitet – zum Auftakt unseres spätsommerlichen Menüs grüne Bohnen begleiten.
Die Mignardises rund um die Himbeere würden auch in die Auslage eines Juweliers passen.
Nach dem Lunch ist vor dem Dinner: Der Service breitet den Speisesaal für die nächsten Gäste vor.
Jedes Jahr 4000 Kilometer mit dem Velo. Wer Desbraux gegenübersteht, merkt sofort: Der Mann geht nicht nur im Wald spazieren, sondern treibt viel Sport. Er hat muskulöse Arme und kein Gramm Fett rund um das markante Gesicht. Ein Läufer oder ein Gym-Liebhaber? «Nein, nein. Ich bin ein begeisterter Radfahrer, ob auf der Strasse oder mit dem Mountainbike in den Bergen. Pro Jahr spule ich gut und gerne 4000 Kilometer ab. Wie im Beruf liebe ich auch beim Sport die Herausforderung», erklärt er. Und gibt es neben der Familie und dem Sport noch etwas, das den 18-Punkte-Chef entspannt. «Oh ja: Brot backen», sagt er mit leuchtenden Augen. «Weil es etwas ganz anderes ist als das Kochen. Und vielleicht auch aus genetischen Gründen. Mein Vater war Bäcker und hat mir diese Passion offensichtlich vererbt.» Die Gäste in der «Maison Wenger» kommen so in den Genuss von herausragendem Brot, das zweimal täglich frisch gebacken wird. Im nächsten Jahr kann die ganze Region profitieren: Desbraux plant die Eröffnung einer Bäckerei in Breuleux, einer Nachbargemeinde von Le Noirmont.