Text: David Schnapp
Die erste Geburt. Alain Ducasse wurde zweimal geboren. Zum ersten Mal am 13. September 1956 in Castel-Sarrazin im Südwesten Frankreichs, wo er seine Kindheit anschliessend auf dem Hof der Familie verbrachte. Als 16-Jähriger begann er – gegen den Willen seiner Mutter – eine Kochausbildung, absolvierte die Hotelfachschule in Bordeaux, und beschäftigte sich später unter dem legendären Roger Vergé mit der Küche der Provence, die immer ein wichtiger Teil seiner Arbeit bleiben sollte. Als 27-Jähriger, er hatte gerade seinen zweiten «Michelin»-Stern für «La Terrasse» im Hotel Juana in Juan-les-Pins bekommen, stürzte Ducasse als Passagier einer Piper Aztec auf dem Weg nach Courchevel mit einigen seiner Köche ab und überlebte als einziger schwer verletzt: «Ich lag fast sieben Stunden im Schnee, blutend, in der Hoffnung, dass mich jemand retten würde. Ich habe gelernt, dass nichts ernst ist, ausser geistig oder körperlich gelähmt zu sein», sagte er einmal über diese Erfahrung.
Die ersten drei Sterne für Ducasse: «Le Louis XV» in Monte Carlo.
Die Wiedergeburt. Im Winter 1984 wurde Alain Ducasse ein zweites Mal geboren. «Ich hatte die reale Welt verlassen und war kurz in einem Zustand aus Wärme und Komfort, als wäre ich an einem anderen Ort. Es war wie Sterben, ohne zu sterben – etwas dazwischen. Und dann kam ich zurück in die Welt des realen Leidens», sagt er über seine Nahtod-Erfahrung. Doch Alain Ducasse, wie man ihn heute kennt, wäre ohne dieses Ereignis nicht denkbar – als Autor einer kulinarischen Enzyklopädie, als erster Koch überhaupt, der gleichzeitig für drei Restaurants in drei Städten mit jeweils drei «Michelin»-Sternen verantwortlich war, als Chef eines Hospitality-Unternehmens, der auf der ganzen Welt Outlets und Gasthäuser, aber auch eine Kochschule betreibt, der in Paris Manufakturen für Schokolade, Kaffee oder Eis besitzt und als kulinarischer Vordenker, der immer noch in der Lage ist, Impulse zu setzen. Nach seiner Rettung lag Ducasse monatelang im Krankenhaus und kreierte Menüs im Kopf: «Ich träumte von Rezepten, Gerichten und Restaurants. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder würde hinter einem Herd stehen können. Aber mir wurde klar, dass ich Gerichte und Restaurants gestalten konnte, ohne selbst vor Ort zu sein, sondern indem ich mein Wissen teile, und indem ich mich mit Leuten umgebe, die verstehen was ich möchte, wenn es um den Geschmack in jedem Restaurant geht.
«Nichts ist ernst ausser körperliche oder geistige Lähmung»: Alain Ducasse.
«Cuisine brut»: Kaviar-Gericht aus dem «Louis XV».
Drei Sterne in 33 Monaten. 1987 ergab sich für Alain Ducasse die Möglichkeit, «Le Louis XV» in Monte Carlo zu führen und damit die Herausforderung anzunehmen, innert vier Jahren dafür drei Sterne zu bekommen – eine Vorgabe des Fürsten von Monaco. Ducasse schaffte das Ziel in 33 Monaten als damals jüngster Koch seiner Zeit. Es sei etwas gewesen, das ihn nur kurz befriedigt habe, sagt dieser Chef der Chefs rückblickend. Schon 1987 servierte Ducasse im «Louis XV» ein reines Gemüse-Menü. «Ein guter Koch schaut zuerst einmal, was es um sein Restaurant herum gibt», sagte er einmal bei einem Gespräch am Chef’s Table seines «Le Meurice» in Paris. Eine «cuisine brut», nah am Produkt, war lange die unverkennbare Handschrift von Alain Ducasse: kühler roher Kaisergranat mit Kaviar und Krustentier-Gelee, frische Sardinen mit Salat und einer Mayonnaise (beides im «Plaza Athenée» in Paris) oder frische Walderdbeeren mit temperierter Walderdbeeren-Sauce und Mascarpone-Eis (im «Louis XV») oder natürlich das ikonische «Baba au Rum comme à Monte Carlo» (im «Le Meurice») gehören zu den grandiosen Erinnerungen zu Tisch bei Ducasse.
Idyllische Oase: das Landhaus Bastide de Moustyers von Alain Ducasse in der Provence.
Fisch, Getreide und Gemüse. Szene-Kenner bemängeln zwar, dass die Handschrift des Meisters in jüngerer Zeit – wohl unter Einfluss der vielen jungen Küchenchefs, die für ihn arbeiten – nicht mehr so eindeutig zu identifizieren sei. Einerseits ist das wohl der Lauf der Dinge: Vielleicht ist es noch schwerer, als Koch alt zu werden als zu kochen, ohne vor Ort zu sein. Andererseits gehört es zum grossen Verdienst von Alain Ducasse, neben einem unglaublichen Output an Rezepten, Gerichten und Restaurants (heute arbeiten 2000 Leute in 9 Ländern und 29 Restaurants mit insgesamt 16 «Michelin»-Sternen – darunter eines auf einem Boot auf der Seine – und anderen Outlets für ihn) kommt Ducasse das Verdienst zu, eine Vielzahl hervorragender Leute ausgebildet zu haben und vor allem hat er über Grundsätze nachgedacht: Sein Plädoyer für weniger Süsse und mehr Bitterstoffen auf dem Teller etwa oder der Entscheid, 2014 im damaligen Drei-Sterne-Lokal «Plaza Athenée», nur noch Fisch, Getreide und Gemüse zu servieren, weil das besser für Umwelt und Gesundheit sei.
Luxuriöse Klarheit: rohe Garnelen mit Krustentier-Geléee und Kaviar.
Klassische Einfachheit: der Suppenwagen im Bistro Benoit (seit 1912) in Paris.
Stolzer französischer Koch. Im Unterschied zu anderen globalisierten Starchefs, die von Burger-Laden am Flughafen bis zum Gourmetrestaurant für fast alles ihren Namen hergeben, hat Alain Ducasse tatsächlich kulinarische und qualitative Überzeugungen, die er in einem legendären Bistro wie dem «Benoit» in Paris ebenso umsetzt wie im Drei-Sterne-Restaurant «Ducasse at the Dorchester» in London. Das Konzept «Naturalité» (Natürlichkeit) etwa mit Fokus auf saisonale, hochwertige Zutaten und Reduktion von Fleisch in Menüs wird im Hinblick auf eine nachhaltigere Gastronomie weltweit umgesetzt. Alain Ducasse war immer ein selbstbewusster Vertreter der französischen Kochkunst, die er als langlebiger und populärer als jede andere Küche einstuft. Und letztlich steht der Koch, der zweimal geboren wurde, für die beiden wichtigsten Kriterien der «Cuisine française»: Produkt und Geschmack.
Fotos: HO, David Schnapp