Der Zauber der Vergesslichkeit. Eigentlich schreiben wir in unserer Serie «Icon Chefs» nur über Köchinnen und Köche mit den allerhöchsten Auszeichnungen. Doch für Vincent Klink machen wir gern eine Ausnahme. Der 76-jährige Patron der Stuttgarter »Wielandshöhe» bereitet unspektakulär klingende Gerichte mit seinem eingespielten Team so grandios zu, dass man vor Freude schreien möchte. Langweilig würde es einem bei Klink selbst dann nicht, wenn man jeden Tag wiederkäme. Nicht fixe Rezepte geben den Takt in der Küche an, sondern die Intuition des Chefs. Alles darf und soll stets ein wenig anders schmecken als am Tag zuvor. «Der Kern der Kreativität ist die Vergesslichkeit», ist Klink überzeugt. Virtuos wechselt er hin und her zwischen klassisch französischer, mediterraner und bodenständig-regionaler Küche, immer demselben Credo folgend: «Ich koche, was ich selbst essen möchte.» Bild oben: Vincent Klink und das Backhendl vom Stübenküken.

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Simple Amuse-Bouche-Perfektion: Zwiebelquiche in der «Wielandshöhe».

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Jede Komponente eine kleine Offenbarung: Gemischter Salat à la Klink.

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Eine Rarität: Bachforelle mit Kartoffelstampf und Linsen.

«So saftig wie eine Orange». Auf der Website der «Wielandshöhe» findet man keine genaueren Angaben zum aktuellen Angebot. Man erfährt lediglich, dass vier Gänge 135 Euro kosten, fünf Gänge 145 Euro und sechs Gänge 155 Euro. Der Instagram-Kanal des Lokals, gefüttert von Klinks Tochter Eva, ist aber nicht nur informativ, sondern auch sehr unterhaltsam. Vor unserem letzten Besuch war unter anderem ein Backhendl vom Stubenküken angekündigt. Mit dem Vermerk «so saftig wie eine Orange». Der poetische Vergleich trifft durchaus zu, wir können uns kein besseres Backhendl vorstellen. In seiner goldbraunen Panade und mit einem denkwürdig guten Kartoffel-Gurken-Salat als Beilage braucht es sich vor keinem Steinbutt dieser Welt zu verstecken. Zum Erlebnis gehören auch die blütenweissen Geflügelmanschetten am Ende der Knochen des Kükens.

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Blumen und weisse Tischtücher sorgen für gediegene Gemütlichkeit.

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Ein Evergreen: Zweierlei vom Milchlamm mit Kartoffeln und Bohnen.

Es blubbert, zischt und duftet. Die Küche der «Wielandshöhe» ist ein Ort, an dem es von früh bis spät blubbert, brutzelt, zischt und duftet. Der Gegenentwurf zur Schubladen- und Silikonformen-Küche. Immer auf der Karte: Maultaschen. «Der Union Jack der Schwaben», wie Klink augenzwinkernd sagt. Der Chef serviert und isst sie vorzugsweise in einer gehaltvollen Bouillon – und achtet sehr genau darauf, dass die Schnittlauchröllchen gleichmässig geschnitten sind. Auf die Details kommt es ihm an, auch auf die allerkleinsten! Bei Vincent Klink hat man eigentlich nur ein Problem: Man weiss nicht, was man nicht bestellen soll. Jedes Gericht, das auf der Tageskarte steht, hat das Zeug zum Lieblingsgericht. Selbst ein «gemischter Salat». Er entpuppt sich als höchst beglückendes Ensemble von Kopf- und Friseesalat an weisser Sauce, sonnengereiften Tomaten und herrlich festen Mini-Pfifferlingen mit Kräutervinaigrette sowie ein wenig Essiggemüse. Kochkunst besteht eben auch aus Zurückhaltung.

Bachforelle und schwäbisch-hällisches Landschwein. Ebenso sehr wie Koch ist Klink Food Scout. Er weiss ganz genau, wo die besten Produkte im Stuttgarter Umland, im restlichen Deutschland oder im angrenzenden Ausland zu finden sind. Stolz ist er zu Recht auf die Bachforellen aus einer Zucht im Odenwald. Diese sind ein seltenes Gut, denn Bachforellen wachsen bedeutend langsamer als Regenbogenforellen, besitzen aber besonders schmackhaftes und festes Fleisch. Wir durften die Filets des edlen Fischleins mit Beurre Blanc, Kartoffelstampf und Linsen geniessen. Nicht minder grossartig: das Kotelett vom schwäbisch-hällischen Landschwein, dessen Fett eine ganz besondere Delikatesse ist. «Nur glückliche Schweine setzen so viel Fett an», weiss Klink, der sich ab 1997 einen Namen als TV-Koch machte und auch schon einen Gastauftritt im «Tatort» hatte.

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Feuer frei: Klink flambiert die Tomatensuppe nach dem Rezept seines Lehrmeisters.

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Klassisches Handwerk: Pasteten gehören zur DNA der «Wielandshöhe».

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Ein wenig Show darf sein: Viele Gerichte werden am Tisch vollendet oder angerichtet.

Tomatensuppe mit Gin – wie 1969. Regelmässig kommt im legendären Restaurant an der Stuttgarter Weinsteige der Flambierwagen zum Einsatz. Am häufigsten für Crêpes Suzette, aber auch für eine spezielle Tomatensuppe mit Gordon's Gin und Wacholderrahm. Deren Rezept stammt aus dem Jahr 1969 und wurde von Klinks Lehrmeister für einen Wettbewerb von Gordon's ersonnen. Überhaupt liebt es der Meister, (ur-)alten Genüssen neues Leben einzuhauchen. Zu seiner Interpretation des Escoffier-Klassikers Pêche Melba (1892/93) bemerkt er lächelnd, dass im 20. und 21. Jahrhundert im Bereich der Desserts nicht mehr viel Gescheites dazu erfunden worden sei und er sich deshalb im 19. Jahrhundert bediene. Klinks Pêche Melba setzt sich zusammen aus einem pochierten weissen Pfirsich aus Frankreich mit Marzipanfüllung, säuerlich-fruchtiger Himbeersauce, himmlischer Weinschaumcreme und einer à part gereichten Nocke Vanilleglace.

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Vincent Klinks Version von Pêche Melba mit pochiertem Pfirsich, Himbeersauce, Weinschaumcreme und Vanilleglace.

Einzelgäste ausdrücklich willkommen. Während man in manchen Restaurants erst ab zwei Personen einen Tisch buchen kann, sind Einzelgäste in der «Wielandshöhe» ausdrücklich willkommen. «Das sind oft die interessantesten Gäste», findet Restaurantleiterin Eva Klink. Der Service bringt Alleinesserinnen und -essern sogar eine liebevoll zusammengestellte Lesestoff-Auswahl an den Tisch. Apropos Lektüre: Vincent Klink ist auch Autor diverser Bücher (u.a. «Mein Schwaben – Leben und Speisen in Ländle des Eigensinns», Rohwolt) und ein fleissiger, pointierter Blogger auf der Website der «Wielandshöhe». Fast so gut wie seine Menüs sind seine bissigen Kommentare über unerfreuliche kulinarische Erlebnisse. Zum Beispiel dieser: «Sous-vide-Hahn, geschmacklos, amorph, für Zahnlose. Kartoffelpüree aus der Sprayflasche. Man achte auf das Witzgemüse. Mit der harten Karotte habe ich mir die Lippe aufgeritzt.» Einen Mann, der so viel Liebe in seinen Beruf legt, schmerzt seelenlose Kost eben doppelt.

>> www.wielandshoehe.de

Fotos: Alex Kühn, HO