Restaurant de l’Hôtel de Ville

Wir hatten den Logenplatz: «Chef’s Table» in der riesigen Küche mit freier Sicht auf 24 junge Köche, die unter ihren traditionell weissen, steifen Toques sehr konzentriert, aber doch entspannt arbeiten. Gebrüllt wird nicht in der Küche, vom kräftigen «Oui, chef!» mal abgesehen, wenn Franck Giovanninis nächste Bestellung quittiert wird. Den «Chef’s Table» kann man buchen. Dazu braucht es eine frühe Reservation, etwas Geduld und idealerweise eine Gruppe von sechs bis acht Gästen; ein gewisser Stammgast-Status ist nicht von Nachteil.
Franck Giovannini kommt schnell zur Sache. Allzu viele Starters sind nicht sein Ding. «Ich kann mich mit einem Gericht besser ausdrücken als mit einem Amuse-bouche», sagt der Patron – und zündet gleich ein doppeltes Feuerwerk. Zuerst das beste Schwertmuschelgericht aller Zeiten («Nage glacée de couteaux»), Weisswein aus dem Lavaux und ein paar Zitronentropfen in der Creme – und eine heftige Portion Oscietra-Kaviar obendrauf. Das Geheimnis dieses Gerichts? Nicht der kostbare Kaviar, sondern die perfekte Temperatur. Giovannini: «Wir haben 24 Grad in der Küche. Also muss der Gang spätestens sieben bis zehn Minuten nach Abruf beim Gast sein.» Gilt auch für die Foie-gras-Geschichte in Runde 2: Die kleinen Gänseleberkugeln werden in perfektem Aggregatzustand serviert und verblüffen uns auf den ersten Blick: Sie leuchten orange aus dem Teller, weil Giovannini seine geliebten Blutorangen erstmals bei den Vorspeisen einsetzt. Hinter diesen «Elégantes billes de foie gras» steckt viel Denk- und Testarbeit. «Mir ist wichtig, dass die Leber bei uns leicht und bekömmlich ist. Die warme Foie gras haben wir deshalb, da zu fett und zu belastend, aus dem Programm gestrichen.»
Wer im Winter nach Crissier fährt, kann auf zwei Klassiker hoffen: Jakobsmuscheln und Cardons. Die prallen Saint-Jacques gibt es diesmal mit kleinstgeschnittenem Blumenkohl und mit einer wunderbaren Dézaley-Sauce. Wie die genau sein muss, gibt der Chef der Brigade und den Gästen schriftlich: «Réduction vigoureuse», also voller Power! Die knackigen Cardons, ein AOP-Gemüse, stammen aus Crissier und gehören irgendwie zum «Hôtel de Ville». Bereits Frédy Girardet, Philippe Rochat und Benoît Violier haben sie regelmässig ins Menü eingebaut. Giovannini setzt auf die klassische Kombination: schwarzer Trüffel, in elegante Scheiben geschnitten, zum rustikalen Gemüse, dazu eine wunderbare Bouillon.
Crissier kauft immer konsequenter Schweizer Produkte ein, selbst in den Saucen ersetzen Weissweine aus der Region öfter mal den Champagner. Nur: Ein Restaurant von Weltruhm kann und will nicht auf das Beste aus dem Meer verzichten. Unsere beiden «Tauchgänge» diesmal: Kaisergranat der höchsten Qualitäts- und Preisklasse («La Belle Demoiselle de Loctudy») mit Spinat und aufregend viel Corail in der Sauce. Und Glattbutt aus der Bretagne, wunderbar saftig und auf kleiner Flamme karamellisiert; andere setzen auf den Turbot, der Chef ist neuerdings fasziniert von diesem Barbue. Wir auch.
Beim Hauptgang spielt die Brigade ihre Power aus. Eigentlich ist das Filet vom Milchlamm à l’ancienne mit Senf angesagt in der «Carte No40 – Winter 2020», aber der Gast kann auch alles andere aussuchen aus dem riesigen A-la-carte-Angebot: wunderbare, gefüllte Schweinsfüsse aus dem Jura, mit Porto, Madeira und schwarzem Trüffel. Enten aus Rouen oder aus Nantes, zubereitet nach dem Ur-Rezept von Frédy Girardet. Poularden aus der Bresse, im Topf gebraten. Wir machten vom überraschenden Recht auf freie Wahl ziemlich schamlos Gebrauch, kriegten alles in herausragender Qualität. «Wir haben ja ziemlich viele Köche in der Brigade. Da muss so etwas möglich sein», sagt der Patron ganz cool.
Ein Grossteil der Brigade verabschiedet sich in den verdienten Feierabend. Zurück bleiben die Patissiers. Und natürlich Antonino Pereira, der seit siebenundzwanzig Jahren den sehr gepflegten Käsewagen vorrollt: unglaubliches Angebot, präzise Erklärungen, flinker Service. Die Desserts: eine geeiste Kokosnusscreme mit Zesten von Zitrusfrüchten, eine Crema catalana mit Mango aus Sizilien. Wer noch kann, lässt sich eine der vielen cremigen Glaces servieren. Ganz ausgeschlossen ist das nicht: Franck Giovannini kocht, wie es der Zeitgeist verlangt, bewusst leichter als seine Vorgänger; auch nach elf (!) Gängen macht sich das unangenehme Gefühl von Völle erstaunlicherweise nicht bemerkbar.
Der Keller des «Hôtel de Ville» ist riesig, mit dem Besten vom Besten in allen Formaten. Beeindruckend aber, wie die besten Schweizer Weine auch in den besten Restaurants auf dem Vormarsch sind. Sommelier Camille Gariglio fand für jeden Gang eine «Schweizer Lösung»: Sauvignon gris 2017, Domaine de la Comtesse Eldegard, aus Genf (grandios zu den Schwertmuscheln!); Petite Arvine «Ivresse» 2018 von der Wahl-Walliserin Valentina Andrei; Savagnin blanc «Amadée» 2016 von der Domaine de la Colombe; Chardonnay «Unique» 2017 von Martin Donatsch; Viognier «Les Romaines» 2018 der Gebrüder Dutruy; Pinot noir «Pur Sang» 2015 von der Domaine de Chambleau in Neuenburg; Syrah «Chamosite» 2016 von Didier Joris; Merlot «Castello Luigi» 2011 vom Tessiner Stammgast Luigi Zanini; Petite Arvine «Grain Noble» 2016 von Philippe Darioli. Sternstunden in Crissier. Auch für den Schweizer Wein.