Carlton Hotel St. Moritz

Der Cerea-Clan hat zwei Probleme zu knacken: Wie baut man das «Da Vittorio»-Imperium (Bergamo, St. Moritz, Shanghai, demnächst Macau) aus, ohne an Qualität einzubüssen? Und: Wie kocht man als Dreisterne-Chef an der Weltspitze mit, ohne seine DNA zu verlieren und sich allzu stark von der klassisch italienischen Küche zu entfernen? Keine Sorge: Clan-Chef Chicco Cerea findet immer eine Lösung. Für St. Moritz eine besonders gute. Stefano Bacchelli, der im «Carlton» den 18. Punkt zurückerobert hat, kocht jetzt mit gutem Erfolg und eisernen Nerven in Shanghai. Im Engadin schaut neu «il cognato», Schwager Paolo Rota, zum Rechten. «La famiglia» am Chefpult – auch das gehört zur Cerea-DNA.
Paolo ist der dritte starke Chefkoch in der Familie, geniesst Chiccos Vertrauen und teilt dessen Vorliebe für ein paar krasse Überraschungen im Teller. Die «Olive», die bei den Starters vorgelegt wird, ist natürlich keine: Die Bergamasker Casoncelli sind das Vorbild. Kalbfleisch ist unter anderem drin in der «oliva finta», und knackige Pistazien ersetzen den Kern. Auch bei der «Marroni», spektakulär präsentiert auf Trockeneis und Tannenzweig, ist die Füllung verblüffend: Rehfleisch! Eigentlich wäre Foie gras rezeptiert, aber die nachhaltig ausgerichtete Besitzerfamilie wünscht keine Gänseleber in ihrem wunderschönen Hotel. Die verrückteste Form der Verwandlung: «Spaghettoro carbonara», ein neues Gericht im Repertoire der Cereas. Eier vom Tintenfisch (!) kommen bei dieser «Carbonara di pesce» an die dicken Spaghetti, Bacalhau-Kutteln ersetzen die Pancetta, Zwiebeln und Fischfond setzen Akzente. Tintenfisch-Eier? Wir googlen verzweifelt, da für uns Neuland. Aber Chef Paolo klärt auf: In Venedigs kleinen Kneipen entlang den Kanälen gehört «uovo di seppia» zum Programm.
Keine Sorge: Einige Gerichte sind auf Anhieb wiederzuerkennen – sofern sie denn zu sehen sind. Die wunderbaren Raviolini del plin liegen unter einer äusserst grosszügigen Schicht Tartufo bianco aus Alba. Natürlich wird auch hier gezaubert: Zwölf (!) verschiedene Fleischkomponenten sind in der Füllung, doppelt reduzierter Rahm sorgt für die perfekte Trüffel-«Landefläche». Die Ricciola (Gelbschwanzmakrele) wird als Frischebombe serviert: Kamille und eine Karottenbrunoise sind im Teller, Grapefruit und Zitronenöl sorgen für Power. Den wunderbaren «Gambero rosso di Mazara del Vallo» gibt’s mit kandiertem Ingwer, Ricotta und Randen. Und beim Steinbutt geht’s für ein paar Minuten Richtung Asien: gratinierter, mit Avocado vermischter und deshalb erstaunlich sanfter Wasabi als Kruste, eine aufwendig angesetzte Dashi mit Katsuobushi und Kombu im Teller; die japanischen Algen sind bis 3 Meter lang, wenn sie in St. Moritz angeliefert werden! Auch der Hauptgang ist eher klassisch: Das beste Stück vom Angus («la croce»), bei 110 Grad stundenlang weichgekocht. Chef Paolo: «Man muss gut aufpassen und das Fleisch alle 30 Minuten kontrollieren. Mal dauert es fünf, mal sechs Stunden.»
Die Küche kriegte von uns die «carta bianca», die Lizenz zum frei Aufkochen. Wer weniger experimentierfreudig ist, greift zur Karte und wird «Da Vittorio» ebenfalls begeistert verlassen: Crudo da mare, aus fangfrischem Meergetier. Risotto mit rosa Pfeffer und Königskrabbe. «Paccheri alla Vittorio», vom hervorragenden Service in aller Seelenruhe mit drei verschiedenen Tomatensorten direkt am Tisch zubereitet.
Bei den Desserts treffen sich die Mutigen und die Traditionellen wieder. Etwa bei der wunderbaren Kreation «Milch, Honig und Génépi (Kräuterschnaps)». Oder bei «Erdbeeren, Rosen & Champagner». Mehr Romantik im Teller geht nicht. Zum Schluss stellt uns Paolo Rota seine Brigade vor: Nur vier Köche, und alle blutjung! Unser Liebling ist die fröhliche Carolina mit der Toque schräg auf dem Kopf: Sie ist zuständig fürs Brot und die Grissini, für die wunderbaren Desserts, für Hunderte von Pralinen, für die selbst gemachte Schokolade. Nur der Panettone kommt aus der «Zentrale» in Brusaporto bei Bergamo; für uns der beste der Welt.