Sie haben beide mit einem Pop-up angefangen, dann kam die Bauernschänke, und jetzt ist es ein ganzes Gastrounternehmen. Ging das im Rückblick etwas zu schnell?
Valentin Diem: Im Nachhinein ging es sicher zu schnell. Aber wir sind auch nicht die Leute, denen die Ideen ausgehen. Wenn wir eine Chance sehen, wollen wir sie nutzen. Jetzt sind wir im siebten Jahr mit mittlerweile 130 Angestellten und zwischendurch gab es Herausforderungen wie Corona. In dieser Zeit mussten wir uns immer wieder neu erfinden. Wachstum ist für mich dabei nicht das Hauptthema. Es geht nicht um die Grösse an sich, sondern um die richtige Betriebsgrösse. Das habe ich mittlerweile gelernt.
Ende 2023 haben Sie mit der Brasserie Süd im Zürcher Hauptbahnhof Ihr bisher grösstes Restaurant eröffnet, nun muss es grundlegend neu ausgerichtet werden – was ist schief gegangen?
Nenad Mlinarevic: Wir haben uns den Standort am Hauptbahnhof vielleicht etwas zu einfach vorgestellt. Unser Ausgangspunkt war die Frequenz von Menschen, die sich täglich dort bewegen. Mit der Brasserie hatten wir dazu ein vermeintlich zeitloses Konzept gemacht, aber es hat nicht funktionert.
Warum hat es nicht funktioniert?
Mlinarevic: Unter anderem, weil wir mit zu viel festangestelltem Personal gestartet sind. Dann kam der Sommer und der Einbruch. Uns war nicht bewusst, wie stark dieser Standort saisonalen Schwankungen unterworfen ist.
Diem: Wir müssen selbstkritisch sein: Wir hatten uns für ein Konzept entschieden, welches uns nicht hundertprozentig entsprochen hat. Das ist bei unseren anderen Restaurants nicht so. Die Idee einer zeitlosen internationalen Brasserieküche können andere Gastronomen besser umsetzen als wir.
«Wenn wir eine Chance sehen, wollen wir sie nutzen»: die Brasserie Süd am Hauptbahnhof Zürich kurz vor der Eröffnung Ende 2023.
Haben Sie zu lange gewartet mit der Anpassung des Konzepts?
Mlinarevic: Es braucht schon eine gewisse Zeit, um herauszufinden, was einen Ort ausmacht, was die Menschen dort erwarten, und wie sich das über ein ganzes Jahr verändert. Die Brasserie Süd funktioniert allerdings anders als unsere übrigen Restaurants. «The Counter» mit Mitja Birlo am selben Ort ist beispielsweise erfolgreich. Diese Art von Gastronomie verstehen wir gut.
Welche Fehler würden Sie heute nicht mehr machen?
Diem: Ich würde mich nicht mehr auf Analysen und geschliffene Beratungskonzepte verlassen, wie wir das bei der Brasserie Süd getan haben.
Sondern?
Diem: Tatsächlich aus dem Bauch entscheiden. Auf unseren Instinkt können wir uns verlassen.
Nenad: Wenn wir irgendwo hinkommen und entscheiden: «So machen wir’s!», dann kommt es in der Regel gut.
Was machen Sie mit diesen Erkenntnissen?
Diem: Am 5. Oktober essen wir mit dem Team ein letztes Mal die bisherigen Gerichte, dann werden im Stil einer griechischen Party die Teller auf dem Boden zerschmettert, um die bösen Geister zu vertreiben. Am 6. Oktober geht es dann mit einem neuen Konzept weiter: Das Wort «Brasserie» streichen wir und konzentrieren uns auf das Lebensgefühl des Südens: Wir haben eine Pastamaschine angeschafft und machen mehrmals pro Woche frische Pasta in allen Formen. Wir wollen eine handgemachte, mediterrane Küche anbieten, wie wir sie selbst mögen. Das macht uns Spass. Wir ändern aber auch die Uniformen, die Musik, die Akustik und selbst den Eingang bauen wir um, damit der Raum gemütlicher wird.
Nenad: Das Restaurant soll nicht mehr die Atmosphäre einer Lobby-Lounge haben, sondern durchs Band lockerer werden. Dafür braucht es auch ein neues Team: Andrea Vailati wechselt von der Bauernschänke ins «Süd» und Thomas Brandner kehrt sozusagen nach Hause in die Bauernschänke zurück – zu seinem ersten Kind, wie er das nennt. Am Ende sind es die Leute, die in einem Restaurant arbeiten, welche die Stimmung prägen. Andrea ist mit italienischer Küche aufgewachsen, er geht mit Liebe und Leidenschaft an die neue Aufgabe.
Von der Bauernschänke ins «Süd»: Küchenchef Andrea Vailati.
Zurück in die Bauernschänke: Küchenchef Thomas Brandner.
Gibt es nicht einen Widerspruch zwischen handgemachter Küche und der Notwendigkeit, die Personalkosten zu senken?
Diem: Wir müssen natürlich effizient arbeiten und uns intelligent organisieren. Das ist in der Schweizer Gastronomie aber ohnehin gefragt, wir haben anspruchsvollere Bedingungen als die Kollegen in Deutschland oder Österreich. Mieten, Personalkosten, Lebensmittelpreise sind bei uns deutlich höher.
Allgemein gefragt: Wie hat sich die Gastronomie verändert?
Diem: Die Durchschnittsumsätze sinken in der ganzen Branche. Die Leute konsumieren weniger, sie trinken weniger Alkohol, und das heisst für uns: Wir müssen die Show mit weniger Personal bestreiten. Wenn es irgendwo nicht läuft, fragen wir uns immer: Liegt es an uns, sind wir schlechter geworden oder liegt es an den Umständen?
Sie stehen für ein gewisses Niveau in der Küche oder bei der Wahl der Produkte. Sind Ihre Qualitätsansprüche zu hoch?
Mlinarevic: Natürlich könnte man mit vorgefertigten Produkten, tiefgefrorenen Spiegeleiern und anderen Tricks Geld sparen. Mit meiner Erfahrung kann ich aber schon mit guter Organisation in der Küche und einer intelligent geplanten Karte viel erreichen.
Diem: Es gibt ein Qualitätsniveau, das wir nicht unterschreiten wollen. Ein Restaurant muss man mit einer Vision beseelen. Das geht nur, wenn man dahinterstehen kann. Das haben wir immer so gemacht und waren damit erfolgreich. Wir sind Leute, die handeln. Als Unternehmer unternimmt man etwas. Wir schauen nicht ewig zu, wenn es nicht gut läuft. Es braucht dann halt etwas Mut.
«Wir müssen die Show mit weniger Personal bestreiten»: Gastronomen-Duo Valentin Diem und Nenad Mlinarevic (hier im Restaurant Neumarkt).
Auch im Neumarkt wurde das Konzept geändert – italienisch-japanische Fusion statt zeitgemässer Schweizer Küche. Sind das natürliche Anpassungsprozesse?
Mlinarevic: Wir haben im Neumarkt bald gemerkt, dass der Winter ohne Garten weniger gut läuft als der Sommer. Also mussten wir uns überlegen, was wir machen. Ein wenig Druck tut uns im Allgemeinen gut.
Diem: Man muss den Schmerz schon mögen in diesem Geschäft…
Mlinarevic: …deshalb fahre ich ja auch Rennrad (lacht). Die letzten Jahre haben uns manchmal weh getan, aber es war wichtig für unsere Entwicklung. Wir waren sehr erfolgsverwöhnt, teilweise lief es fast zu gut.
Ihre eigene Rolle als Koch hat sich ebenfalls stark verändert. Wie sieht die heute aus?
Mlinarevic: Die letzten sieben Jahre sind so schnell an mir vorbeigezogen, dass es nicht immer einfach war, eine Rolle zu definieren. Mein Part ist es heute, vor Ort in den Restaurants zu sein und zu spüren, was dort passiert. So sehe ich die Schwierigkeiten oder erkenne Möglichkeiten für Anpassungen am besten. Aber wenn man mehrere Betriebe hat, wird das immer schwieriger.
Klares Konzept: Mazemen Ramen mit Ragù in der «Cucina Itameshi».
Italienischer Klassiker: Tiramisu in der «Cucina Itameshi».
Sie sind der Mann an der Front?
Mlinarevic: Ich bin Koch, ich liebe meinen Job und will nicht bloss zu Hause Menüs schreiben und sie dann den Küchenchefs in den Restaurants aushändigen. Man kreiert kein gutes Gericht am Schreibtisch, sondern wenn man in der Küche steht, sich mit den Kollegen austauscht oder mit Lieferanten spricht.
Wie beurteilen Sie die generelle Entwicklung Ihrer Branche?
Diem: Es gibt Metatrends wie Gesundheit, Ernährungsbewusstsein, aber auch Schnelllebigkeit und Unsicherheit. Die Leute entscheiden nicht mehr lange im Voraus, sondern am selben Tag, wo sie abends ins Restaurant gehen. Wenn ich in unser Reservationssystem zwei Wochen in die Zukunft schaue, könnte ich gleich den Mut verlieren, und das macht die Personalplanung enorm schwierig. Damit und auch mit dem Umsatzrückgang beim Alkoholkonsum müssen wir lernen umzugehen. Die richtige Betriebsgrösse zu finden, ist die Lösung.
Nenad: Es gibt Entwicklungen, die nicht direkt mit der Gastronomie zu tun haben, die man aber beachten muss. Die ganze Longevity-Bewegung wird mittlerweile in Form von Labors überall in der Stadt Zürich sichtbar. Viele Leute überwachen mit elektronischen Armbändern ihren Schlaf und ihre Schrittzahl. Solche Dinge wirken sich auf die Gastronomie aus.
Inwiefern?
Mlinarevic: Einfach gesagt, indem man selbstverständlich vegane und vegetarische Gerichte anbietet. Wir haben aber auch gemerkt, dass sich die Preissensiblität verändert hat. Gerichte, die über 50 Franken kosten, werden weniger bestellt, ein Menü darf nicht teurer als 100 Franken sein. Und: Es braucht ein klares Konzept. Wenn ich jemandem sage, «es gibt Udon-Nudeln mit Cacio e Pepe», weiss der Gast, worum es geht: japanische und italienische Küche kombiniert.
Diem: Es ist uns auch wichtig, dass man mit einem kleinen Budget bei uns essen kann. Wir wollen niemanden ausschliessen. Aber das Wichtigste ist der Fokus auf den «Vibe». Die Zeit der minimalistischen Coolness geht zu Ende, Restaurants müssen Orte der Lebensfreude sein.
>> Valentin Diem und Nenad Mlinarevic haben 2018 mit dem Pop-up «Stadthalle» den Grundstein für ihr heutiges Gastronomie-Unternehmen gelegt, zu dem die Restaurants Bauernschänke (15 Punkte) und Neumarkt (jetzt: Cucina Itameshi, 14 Punkte) im Niederdorf, die vegetarische «Neue Taverne» (16 Punkte) beim Rennweg sowie die Brasserie Süd (neu nur noch «Süd», 14 Punkte) sowie «The Counter» mit Küchenchef Mitja Birlo (18 Punkte) im Hauptbahnhof Zürich gehören. Nenad Mlinarevic war davor Küchenchef im Restaurant Focus im Park Hotel Vitznau und wurde dort 2016 Koch des Jahres mit 18 Punkten sowie zwei Michelin-Sternen. Der Ökonom Valentin Diem hatte sich vor der gemeinsamen Firmengründung einen Namen gemacht als Initiant von Pop-up-Konzepten wie «Wood Food» und «Soi Thai» in Zürich.
Fotos: Ellin Anderegg, Lukas Lienhard, Mads Jarlfeldt, Christian Nilson