Text: David Schnapp | Fotos: Joan Minder
Eigenwillige Gedankenwelt. Die japanische Küche gehört zu den kulinarischen Hochkulturen, der Umgang mit Produkten und Aromen, die Philosophie der handwerklichen Perfektion und die Reduktion auf das Wesentliche inspiriert viele Köche auf der Welt. Sich auf japanische Küche einzulassen, bedeutet, eine Gedankenwelt zu betreten, die durchaus eigenwillig – manchmal auch gewöhnungsbedürftig – ist, die gleichzeitig aber auch eine Art von schlichter Schönheit und Eleganz zum Ausdruck zu bringen vermag, wie sie sonst kaum eine Küchen-Stilrichtung anbieten kann.
Der Counter in Suite 100. Im Zürcher Hotel The Dolder Grand hat man zu diesem Zweck im früheren Sitzungszimmer der Suite Nummer 100 eigens einen kleinen Counter mit Platz für sieben Personen eingebaut. Dahinter steht seit kurzem Atsushi Hiraoka (früher Casino, Bern) als neuer Küchenchef und serviert zum Start eine wunderbar feine, leicht fettige und aromatische Wagyu-Suppe auf Dashi-Basis und dazu etwas cremiges Tatar vom Wagyu-Rind auf einem Reis-Chip mit knusprig-jodigem Nori-Algenblatt und Kaviar.
Feinsinniges Spektakel. Durchs Menü (15 Gänge) zieht sich wie ein roter Faden ein feinsinniger Umgang mit Aromen und Texturen. Meister Hiraoka nimmt seine Gäste mit auf eine abwechslungsreiche Reise durch die Geschmackswelt seiner Heimat, ohne sich dabei beispielsweise von der festen Speisefolge der Kaiseki-Küche einschränken zu lassen. Stattdessen kombiniert er ziemlich frei Techniken und Produkte, was zu immer wieder spektakulären Ergebnissen führt. Wobei es sich um ein eher feinsinniges Spektakel handelt. Gesucht wird nie der laute Aromenknall, sondern die subtile Balance, die vollkommene Harmonie.
Viermal Umami. Das Meisterstück des Abends in dieser Hinsicht ist eine kleine Schale, in der Umami aus vier Quellen vereint wird: Sake, Shitake, Abalone sowie mit Sancho-Pfeffer gekochte Minifische, zählt Atsushi Hiraoka auf. Wie Farben eines Aquarells verlaufen die verschiedenen Nuancen des Umami-Wohlgeschmacks ineinander und ergeben ein Bild voller Anmut. Kontrast wird hier nicht in den Aromen, sondern in den Texturen gesucht: Der in Sake gedämpfte Abalone ist fest und leicht gummig, dazu gibt es weichen Seidentofu. Butterzart ist danach auch der in Kirschbaumblättern gedämpfte Oktopus mit Broccoli und säuerlich eingelegten Kirschtomaten. Und der für 48 Stunden in Koji gebeizte Seehecht hat ein festes, leicht süssliches Fleisch; eine Sauce aus Dashi, Mango und Nashi-Birne gibt hier dem Fisch eine fruchtig-würzige Grundlage.
Poesie des Omeletts. Ebenso meisterhaft wie der Umgang mit geschmacklichen Nuancen gelingt die Behandlung der Produkte. Die Zubereitung eines Omeletts wird deshalb zum Zen-artigen Moment reinster Küchenpoesie: Bedächtig und schrittweise giesst der 50-jährige Küchenchef etwas Ei-Mischung in eine kleine quadratische Pfanne, lässt sie portionenweise fest werden und schiebt die einzelnen Schichten sorgfältig mit zwei Stäbchen zusammen, bis das Omelett fertig gestockt ist. Dazwischen wird es noch mit Hilfe eines Holzinstruments mehrfach gedreht, bis die Konsistenz perfekt ist. Zusammen mit rauchig-würzigem Aal und fein gehobeltem Sommertrüffel wird daraus eines der kräftigeren Gerichte im Menü.
«Lieblingsdessert meiner Mutter.» Der Omakase-Abend schliesst traditionell mit Sushi: Einige Stücke Nigiri (isländischer Meeres-Saibling, norwegische Makrele, roher Tintenfisch) und Maki-Rollen. Danach gibt es das «Lieblingsdessert meiner Mutter», wie der Chef erzählt: Das blumige Parfüm von Kirschblüteneis schmeckt zusammen mit süsser Azukibohnenpaste, kleinen Grüntee-Mochis sowie Kirschblüten-Agar-Gelée-Würfeln wie Frühling in Osaka. Fazit: Der intime Counter in Suite 100 ist ohne Zweifel eine neue, fast schon leicht sakrale Attraktion im «Dolder Grand». Und Atsushi Hiraoka ist als stiller Star eine Bereicherung für die Gastronomie in Zürich.