Perfektionismus, Ehrgeiz und Verzicht: Das sind die Schlagworte, welche die Geschichte von Sergio Herman ziemlich gut beschreiben. Der heute 55-jährige Niederländer hat, und das ist nicht übertrieben, europäische Kulinarikgeschichte geschrieben. In den 2000er Jahren hat Sergio Herman in seinem Restaurant Oud Sluis im niederländisch-belgischen Grenzgebiet an der Nordsee Ideen entwickelt, die heute im Fine Dining selbstverständlich sind, damals aber geradezu revolutionär erschienen. Nur wenige Köche haben eine ganze Generation von Kollegen so beeinflusst wie der Mann mit den Tattoos und der Attitüde eines kochenden Rockstars. Kellner in Jeans und Turnschuhen, Kochjacken und -Schürzen als modisches Accessoire und nicht bloss als Arbeitskleidung, Pop-Musik im Restaurant und eine handgeschriebene Begrüssung mit den Worten «Welcome, lovely people!» gehörten 2010 im «Oud Sluis» zum Setting. Ein ganzes Menü konnte schon mal sechs Stunden dauern, Sergio Herman war zu dieser Zeit ein Meister hochkomplexer Gerichte und forderte seine Köche ebenso wie die Gäste mit Tempo und Vielfalt und immer neuen Ideen, weil man es immer noch besser machen konnte. Herman hat als einer der erster mit massgefertigten Silikon-Formen gearbeitet, er hat regionale Produkte, viel Gemüse, Kräuter und Blüten verwendet oder asiatische Aromen zu einer Zeit integriert, als Miso, Shiso und Dashi kaum je im Fine Dining autauchten.

Oud Sluis

Pilgerstätte für Foodies: das «Oud Sluis» in der Provinz Zeeland in Südholland. 

Fine Dining statt Muscheln. Doch der Reihe nach: Im Jahr 1990 übernahm Herman das auf Seafood spezialisierte Familienrestaurant wegen der Alzheimer-Diagnose seines Vaters und baute es schrittweise zur Fine-Dining-Adresse aus. Sergio hatte schon als Jugendlicher im Betrieb mitgearbeitet und Geschirr gespült. Er war Absolvent einer Kochschule und hatte ein Praktikum in einem Zwei-Sterne-Restaurant gemacht, aber zum Zeitpunkt der Rückkehr in den Familienbetrieb hatte er kaum bei grossen Köchen gearbeitet. Später hat Sergio Herman das zu einem Prinzip erhoben. Bei einer Begegnung im Jahr 2012 sagte er, er gehe nicht oft zu bekannten Kollegen essen, um seine eigene Küche nicht zu beeinflussen. Die Kraft seiner Gerichte zu dieser Zeit hat deshalb auch viel damit zu tun, dass sie einen hohen Grad an Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit hatten. In seinem Buch «Sergiology» nennt Herman dennoch eine Reihe von Menschen, die ihn inspiriert haben, die Liste reicht vom legendären britischen Koch Marco Pierre White, über den DJ Sven Väth bis zum Fotografen und Filmemacher Anton Cirbijn und sagt viel aus über das kreative Selbstverständnis von Sergio Herman. 

Muscheln Sergio Herman

Ein Herz für Muscheln: «Moules et Frites» gehören zur DNA der Familie Herman.

Austern Sergio Herman

Lokale Produkte: Austern nach Art von Sergio Herman.

Göttliche Perfektion. Viel Arbeit und durchaus auch Rückschläge und Tränen hat es gebraucht, um das «Oud Sluis» zu transformieren von einem Lokal mit zwei Köchen, wohin die Leute nicht mehr wegen den Muscheln in Weissweinsauce kamen, sondern wegen eines der besten Menüs Europas, für die auf dem Höhepunkt 18 Köche arbeiteten. 2005 wurde das Restaurant mit dem dritten Michelin-Stern ausgezeichnet, 2010 bekam Herman als erster Koch ausserhalb Frankreichs und als zweiter nach Marc Veyrat überhaupt die Note von 20 GaultMillau-Punkten. Für die Gründer des Restaurant-Guides, Henri Gault und Christian Millau, war dies ein unmöglich zu erreichender Grad an Perfektion, den sie als gottgleich ansahen. 

Eine gute Schule. Arbeitstage mit 20 Stunden waren für Sergio Herman lange selbstverständlich, auch seinen Köchen konnte man kaum mangelnden Einsatz vorwerfen. Christoph Petzlin, heute F&B-Verantwortlicher im Hotel The Dolder Grand in Zürich, hat das letzte Jahr im «Oud Sluis» gearbeitet und schwärmt heute noch von dieser Zeit. «Dieses Feuer von Sergio hat mich wahnsinnig mitgezogen», sagt er heute. «Wir sind mit Tellern durch die Küche zum Pass gerannt, es war eine unglaubliche Atmosphäre von Rock ‘n’ Roll und Energie», so Petzlin. Jeder habe in dieser Küche alles gegeben – «von morgens um 6 Uhr bis nachts um eins.» Einmal, erzählt Christoph Petzlin, sei er so müde gewesen, dass er stehend in der Küche eingeschlafen sei. Aber nicht nur die Intensität der Arbeit, auch die Art und Weise, wie man beispielsweise mit regionalen Produzenten, Züchtern oder Gärtnern zusammengearbeitet habe, sei für diese Zeit einmalig gewesen. Dass das «Oud Sluis» eine gute Schule war, zeigen auch die Karrieren von Chefs wie Tohru Nakamura, der heute auf Drei-Sterne-Niveau in der «Schreiberei» in München kocht, oder Max Natmessnig und Marco Prins, die sich in Sluis kennengelernt haben und heute gemeinsam das legendäre «Chef’s Table at Brooklyn Fare» in New York führen.

Hotel Vitznauerhof LU, Warchild charity, Andreas Caminada, Sergio Herman, Jeroen Achtien, Ollie Schuiling

Freundschaft zweier ungleicher Köche: Sergio Herman und Andreas Caminada.

Tohru Nakamura

«Eienr für alle, alle für einen»: Tohru Nakamura in seiner «Schreiberei».

Wie Haute Couture. Andreas Caminada, der oft mit Sergio Herman verglichen wird, pflegt schon seit Jahren eine Freundschaft zum Kollegen aus den Niederlanden, und erklärt dessen besondere Ausstrahlung mit einem persönlichen Vergleich: «Sergio ist ein Rockstar mit einem Rockstar-Leben. Das bin ich nicht, ich bin ein biederer Schweizer, der abends rechtzeitig ins Bett geht, wenn am nächsten Tag Termine anstehen.» Was Sergio Herman von anderen unterscheide, sei ausserdem dessen Gespür für gesellschaftliche und kulturelle Strömungen, so Caminada: «Alles, was er macht, ist immer modern und wie Haute-Couture auf der Höhe der Zeit. In der Küche hat er einen Spirit geschaffen, der einmalig ist. Diese Dynamik, mit der er die Dinge angeht, hat kaum ein anderer Chef», ist Caminada überzeugt.

«Starkes Teamgefühl.» Tohru Nakamura, heute in der «Schreiberei» in München selbst mit drei Sternen ausgezeichnet, hat von 2010 bis 2012 in verschiedenen Funktionen im «Oud Sluis» gearbeitet und ist bis heute beeindruckt davon, wie es Sergio Heller gelinge, Ästhetik und Energie zu vereinen: «Wenn Sergio einen Teller in die Hand nimmt und mit denselben Komponenten anrichtet wie jemand anders, ist es immer aussergewöhnlich», sagt Nakamura. Ausserdem spricht er von einer «freien Kreativität», die Sergio auszeichne und mit der es ihm gelinge, alltägliche Geschmacksbilder auf ein ganz neues Niveau zu heben. Das hohe Energie-Level, das in der Küche des «Oud Sluis» geherrscht habe, führt der deutsch-japanische Koch einerseits auf die verantwortlichen wie Sergio Herman und sein Küchenchef Nick Bril zurück. Wahr sei aber auch, dass jeder einfach nervös war, alles zu schaffen: «Wir waren jeden Tag mit jeweils knapp 40 Gästen zweimal ausgebucht und mussten ein Acht-Gang-Menü mit sieben Amuse-Bouches und sieben Petit Fours schaffen», erzählt Tohru Nakamura. Dabei habe immer ein starkes Teamgefühl geherrscht. Küche und Service hätten an einer Front gekämpft: «Einer für alle, alle für einen, war das Motto», sagt Nakamura.

Sergio Herman @Padrutts Palace Hotel 2019

Höchste Intensität: Sergio Herman beim St. Moritz Gourmet Festival 20019 im Badrutt's Palace Hotel.

Im Tunnel. Wer Sergio Herman einmal beim Kochen beobachten konnte, hat einen Mann gesehen, dessen Energie, Intensität, und dessen Perfektionsdrang ihn von den meisten unterscheiden. Als wäre er in einen geistigen Tunnel abgetaucht, so wirkt Herman, sobald er am Pass steht. Anschaulich zu verfolgen ist das im Dokumentarfilm «Fucking Perfect», der die «Oud Sluis»-Energie hervorragend eingefangen hat. Selbstverständlich mangelt es keinem Küchenchef auf diesem Niveau an Ehrgeiz und Willen, aber kaum einer hat es wie der Niederländer geschafft, eine Art von mentalem Extremismus mit einem Gespür für Stil und unverkennbarer Ästhetik zu vereinen, wie Sergio Herman. Wobei sein Gestaltungswille weit über das blosse Gericht hinausging. Herman kümmerte sich versessen um jedes Detail des Restaurant-Erlebnisses. Oder, in seinen eigenen Worten: «Every fucking detail counts!»

Fries Atelier Antwerpen

Sinn fürs Einfache: Pommes im «Fries Atelier» in Antwerpen.

Le Pristine Antwerpen

Leidenschaft für italienische Küche: «Le Pristine» in Antwerpen.

Höhepunkt und Ende. Zur Legendenbildung hat zweifellos die Tatsache beigetragen, dass Herman auf dem Höhepunkt abgetreten ist und «Oud Sluis» Ende 2013 geschlossen hat. «Es hätte nur noch abwärts gehen können», sagte er einmal dazu, er wollte mehr Zeit für die Familie haben, reisen und andere Konzepte ausprobieren. Sergio Hermann brachte in der Folge eine Reihe verschiedener Konzepte in verschiedenen Ländern an den Start, manche wie die mittlerweile wieder geschlossenen «Pure C» oder «The Jane» im gehobenen Segment. Zum Portfolio gehört aber auch das italienisch inspirierte «Le Pristine», die Bar «Pristine Café» in Antwerpen sowie verschiedene Filialen des «Frites Atelier» in Belgien und den Niederlanden. 

Sergio Herman Prive Prive

Intimer Rahmen: Sergio Herman in seinem Wohnzimmer-Restaurant «Privé Privé».

Rückkehr zu den Wurzeln. Nach dem Ende von «Oud Sluis» liess Sergio Herman vor allem andere in seinem Namen kochen, förderte Talente wie Nick Bril oder Syrco Bakker und widmete sich seiner geheimen Leidenschaft, einer modernen italienischen Küche mit dem Buch «New Italian» (2021). Mittlerweile kocht er auch selbst wieder: «Privé Privé» heisst das kleine Restaurant in Antwerpen, wo Sergio Hermann in der Atmosphäre einer Stube, welche in seinem Townhouse in Antwerpen untergebracht ist, an ausgesuchten Daten für höchstens 24 Gäste am Herd steht. Auch das unterscheidet den 55-Jährigen von den meisten Kollegen, die, je älter sie werden, immer weniger selbst kochen. Für Sergio Herman hingegen ist es eine Rückkehr zu seinen Wurzeln und wohl Ausdruck eines inneren Drangs. Der Zürcher Starchef und Sergio-Fan Nenad Mlinarevic, der kürzlich einen der seltenen Plätze im «Privé Privé» zugelost bekam, versteht Sergio Hermans Beweggrund: «Wenn das Kochen und Kreieren so im Zentrum deines Lebens steht, geht es nicht anders. Wenn ich meinen Beruf nicht hätte, wäre ich mit Beziehung und Hobbys auch nicht ausgefüllt.» Die Gerichte seien nicht mehr so verspielt wie früher, berichtet Mlinarevic, aber die perfekte Balance, die Säure von Zitrusfrüchten und dazu die neuen italienischen Einflüsse sorgen für typische Sergio-Momente.

Sergio Herman

«Ich habe viel geopfert, aber bedingungslos und mit grosser Freude»: Sergio Herman.

Air Republic

Immer wieder neue Konzepte: Gericht aus dem mittlerweile geschlossenen «Air Republic» (2017).

Status: «Lebende Legende». «Ich habe dem Restaurant alles von mir gegeben», schreibt Sergio Herman in «Sergiology» über die prägende Zeit im «Oud Sluis» und den Moment, in dem er entschieden hat, den Fuss etwas vom Gaspedal zu nehmen. «Ich habe viel geopfert, aber bedingungslos und mit grosser Freude. Wenn man älter wird, sieht man die Dinge anders, man schaut anders auf das Leben», so Herman. Und auch wenn das Feuer nicht mehr so heiss und hell brennt, bleibt Sergio Herman eine inspirierende Figur der europäischen Gastronomie, der sich den Status «lebende Legende» redlich verdient hat.

Bilder: Thomas Buchwalder, Harry Van den Bulck, Pieter D'Hoop, HO