LICK IT UP! Den Teller abzulecken, ist in einem Gourmet-Lokal eigentlich tabu. Ganz anders bei Gaggan: Der Chef des gleichnamigen Restaurants in Bangkok befiehlt es seinen Gästen sogar. Seit 2017 serviert er sein tausendfach kopiertes Signature Dish «Lick it up!» mit wechselnden Zutaten zu Beginn des Menüs – und stellt so gleich klar, dass er auf Konventionen pfeift. Doch Gaggan, der in Indien in einfachen Verhältnissen aufwuchs, ist trotz seines schrillen Auftretens kein Klamauk-Koch. Er beherrscht das Spiel mit Aromen, Texturen und Temperaturen virtuos, gehörte einst zu Ferran Adrias Team im legendären «El Bulli». Von dort stammt auch die Idee für seinen Klassiker «Yogurt Explosion», eine Sphäre aus Joghurt mit einem Kern aus Mango-Chutney. Bild oben: Gaggan und sein «Rattenhirn»-Dessert.
Lick it up! Die Zutaten ändern, die Message bleibt gleich.
25 GÄNGE FÜR EIN HALLELUJA. Wie sehr Gaggan die Zeit in Spanien geprägt hat, unterstreicht auch der Umfang des Menüs. Erst nach 25 Gängen ist Schluss! «Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man nicht mit Essen spielen darf. Doch genau das mache ich jetzt», sagt der kulinarische Revoluzzer und freut sich über seinen (höchst erfolgreichen) Ungehorsam. Wer in Gaggans Flaggschiff-Restaurant einkehren möchte, muss umgerechnet rund 400 Franken auf den Tisch legen. Und das in einer Stadt, in der man für ein paar Franken in den Strassenküchen verdammt gut essen kann. Doch der 46-Jährige ist eben nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch ein Marketing-Genie. Bei «The World's 50 Best» ist er schon wieder die Nummer 1 in Asien, weltweit die Nummer 6 – und internationale Brands reissen sich um ihn. Erst kürzlich eröffnete er in Zusammenarbeit mit Louis Vuitton ein weiteres Restaurant in Bangkok.
Wer bei Gaggan Ente essen möchte, muss sich diesem Anblick stellen.
Die 14 Plätze am Tresen von Gaggans Lokal sind heiss begehrt.
Austern? Nein, ein Snack mit Wassermelonen-Perlen!
TRIEBFEDER FÜR BANGKOKS FINE-DINING-SZENE. Als Gaggan 2007 nach Bangkok kam, gab es dort zwar viele gute Restaurants, aber keine moderne Fine-Dining-Szene. Heute quillt die thailändische Kapitale über von spannenden Konzepten, darunter Andreas Caminadas «Igniv»-Filiale im St. Regis Hotel und das in einer früheren Botschafter-Residenz untergebrachte Lokal der deutschen Sühring-Brüder, an dem Gaggan als Investor beteiligt ist. Die grösste Inspiration sei für ihn aber die Strasse, sagt der berühmteste Chef der Stadt. Da ist es nur konsequent, dass er an freien Abenden regelmässig im «Street Seafood by Noi» auf dem Huai Kwang Night Food Market anzutreffen ist. «Es war das erste Lokal, das ich in Bangkok besucht habe, heute setze ich mich einfach in die Küche und esse, was mir die Inhaberfamilie hinstellt», sagt Gaggan.
Zu Besuch in Fürstenau: Gaggan kochte 2021 zusammen mit Andreas Caminada für die Fundaziun Uccelin.
WEINKARTE? NEIN, DANKE! Einer der Sätze, die Gaggan immer wieder sagt, lautet «Ich hasse Mainstream». Und das ist nicht nur ein Lippenbekenntnis. Während andere Fine-Dining-Lokale Weinkarten führen, die so dick wie Telefonbücher sind, hat er die heilige Kuh geschlachtet. Es gibt zwei zum Menü gehörige Getränke-Pairings, mehr nicht. Wer diese nicht mag, schaut in die Röhre. Sommelier Vladimir Kojic stellt nur eine Frage: «Mit oder ohne Alkohol?» Dass dieser radikale Ansatz mitunter zu Schwierigkeiten führt, stört Gaggan nicht. Einem Gast, der sich (unter Tränen!) über die Getränkebegleitung und das Fehlen einer klassischen Weinkarte beschwerte, sagte er nur: «Ich kann nicht glauben, dass Sie als Erwachsener wegen so etwas weinen.» Gaggan ist (wie sein Sommelier) überzeugt, dass man die Gäste manchmal zu ihrem Glück zwingen muss.
Tradition trifft Moderne: Gaggan gart Fisch gerne in Bananenblättern – Bunsenbrenner-Einsatz inklusive.
UND ZUM SCHLUSS DAS RATTENHIRN! Auch mit dem Essen sind nicht alle Gäste happy. Sonst wäre es wohl auch keine Avantgarde. «Einmal stand eine Fünfergruppe mitten im Menü auf und verliess das Lokal», erinnert sich Gaggan. «Ich fragte mich, ob ich etwas ändern sollte, und kam zum Schluss, dass ich das nicht möchte. Dann wären wir wieder ein Restaurant, das es allen recht machen möchte, das Gegenteil von dem, was mir vorschwebt.» Eine weitere Eigenart des genialen Chefs ist, dass er seinen Gästen nicht sagt, woraus sich der Gang zusammensetzt, der gerade vor ihnen steht. Sonst wären Kreationen wie das «Rattenhirn» (in der jüngsten Dessert-Variante eine Art Panna cotta mit einer Sauce aus roten Beeren) nur der halbe Spass.
Willkommen im kulinarischen Dschungel: Hier befinden sich das «Gaggan» und das «Ms. Maria and Mr. Singh».
«GAGGAN LIGHT» MIT MEXIKANISCHEN EINFLÜSSEN. Übrigens: Wer Gaggans Welt kennenlernen möchte, ohne 400 Dollar für sein Essen auszugeben und mit lauter Rockmusik beschallt zu werden, checkt einen Stock weiter oben im «Ms. Maria and Mr. Singh» ein. Dort lässt der Meister beschwingte mexikanisch-indische Fusion-Küche auftragen. Nicht so abgedreht und aufwändig wie in seinem Fine-Dining-Tempel, aber genauso begeisternd. Auf dem Menü: Oktopus-Aguachile, Tacos mit Baingan Bharta (Auberginen mit indischen Gewürzen, Tomaten, Zwiebeln und Kräutern), Chicken Tikka Masala oder Palak Paneer (indischer Frischkäse mit püriertem Spinat).
Fotos: HO