Text: David Schnapp

Wenn Sie jemanden treffen würden, der die letzten 12 Monate im Tiefschlaf verbracht hat, wie würden Sie ihm Ihr Jahr zusammenfassen?

Es war ein höchst interessantes Jahr. Dass Leute wie wir, die gerne jeden Tag 16 Stunden arbeiten, plötzlich von 100 auf 0 herunterfahren mussten, war davor kaum vorstellbar. Da wussten viele erst gar nicht, was sie mit der Zeit anfangen sollten. Das war ein Schock, und sowohl betrieblich wie auch persönlich war es ein schlimmes Jahr mit vielen bedrohten Existenzen, mit Krankheiten und Todesfällen. Es gab einem aber auch Zeit, den eigenen Horizont zu erweitern und sich um lange aufgeschobene Dinge zu kümmern.

 

Und ganz persönlich: Partner am Herd weg, Restaurant bis im November geschlossen – was hat das mit Ihnen als Koch mit Ambitionen gemacht?

Dass Moses gehen würde, war ja schon vor dem Lockdown klar. Wir sind dicke Freunde und wir haben täglich 16 Stunden zusammen gekocht und gelacht. Es hat mich traurig gemacht, als das vorbei war. Aber jetzt habe ich mit Richard Schmidtkonz einen neuen Küchenchef, den ich auch schon Jahre kenne. Das «Einstein»-Team ist praktisch unverändert, es ist eingespielt und die erste Karte nach der Schliessung ist uns handwerklich und aromatisch gut gelungen, wie ich finde. Das Motto bleibt: «Attacke!», und ein turbulentes Jahr geht doch noch gut zu Ende.

 

Warum haben Sie den Mut nicht verloren?

Zum einen wegen meiner Frau, die ich im «Einstein» kennengelernt habe, und die eine grosse Stütze für mich ist. Und ich bin ein sehr lebensfroher Mensch, mein Motto ist immer: «Das Glas ist halb voll.» Und schliesslich hatte ich immer die Unterstützung der Direktion und der Inhaber des Hotels Einstein. Es war sehr wichtig für mich zu wissen, dass wir eine Perspektive haben.

 

Was war der beste Gang, den Sie 2020 trotzdem auf den Tisch gebracht haben?

In der Patisserie war das die Kombination aus Buchweizen, Schokolade, Apfel und Milcheis, das wie eine Art Taco präsentiert wird. Und aus der salzigen Küche war es unser Käsegang, der aus der Idee entstanden ist, einen Schinken-Käse-Toast zu servieren. Er besteht aus Vacherin, der unter dem Salamander warm gemacht wird, dann kommen eingelegte rote Zwiebeln darauf, ein hauchdünner Brotring, Belper Knolle und dazu wird ein heisser Schinkensud angegossen.

Hotel Einstein, St. Gallen

Beste Freunde, geniales Duo am Herd: 2020 hat sich Moses Ceylan (l.) aus dem «Einstein» verabschiedet.

Sie müssen ohne Moses Ceylan einen neuen Stil für Ihre Küche definieren. Was haben Sie sich vorgenommen?

Unser Stil verändert sich gar nicht so stark. Orientalische Aromen haben mich schon vor der Zeit mit Moses interessiert und an das Handwerk habe ich immer noch höchste Ansprüche. Ich glaube nicht mal, dass die Gäste merken, dass es in der Küche einen Wechsel gegeben hat.

 

Welche Erfahrung haben Sie in diesem turbulenten Jahr gemacht, die Sie weitergebracht oder geprägt hat?

Ich habe im Lockdown jeden Tag im Alltagsgeschäft des Hotels mitgearbeitet, wo man als Executive Chef sonst vielleicht mal zehn Minuten am Tag verbringt. Dass ich dadurch viel mehr sehen und mit den Leuten erleben konnte, war Gold wert.

 

Was sagt Ihre Buchhaltung zum Jahr 2020?

Als wir beim Kadermeeting zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns erstmals die Zahlen gesehen haben, war das ein Schock. Das «Einstein» ist ein grosses Haus mit 120 Zimmern, Kongresszentrum, mehreren Restaurants – wenn das alles wegbricht, fehlt viel. Aber wir haben grosse Anstrengungen unternommen, um das mit Einsparungen und anderen Massnahmen aufzufangen. Am Ende des Jahres stehen wir verhältnismässig gut da und können positiv in die Zukunft schauen.

 

Was war das schönste Kompliment, das Sie 2020 bekommen haben?

Das schönste ist, wenn meine Frau sagt, sie möge mich, wie ich bin. Und im Betrieb ist das der Mitarbeiter, der sagt, er freue sich, wieder mit mir in der Küche stehen zu können. Und seit wir im November wieder offen haben, sitzen jeden Abend 50, 60 Prozent Stammgäste im Restaurant. Das ist das schönste Kompliment, das man als Koch bekommen kann.

LOCARNO-ORSELINA, 13.10.2020 - Amuse Bouche by Chef Sebastian Zier. S. Pellegrino Sapori Ticino 2020 'Sebastian Zier: The other half of the apple'.  in Villa Orselina, Locarno-Orselina.copyright by www.steineggerpix.com & www.saporiticino.ch 2020 / photo by remy steinegger+++ no resale / no archive +++

Höchste handwerkliche Ansprüche: Ziers Kürbis-Rose mit Quinoa und Dashi-Beurre-blanc.

LOCARNO-ORSELINA, 13.10.2020 - Mela Boskop - Grano saraceno - Fior di Latte - Ivoire by Chef Sebastian Zier. S. Pellegrino Sapori Ticino 2020 'Sebastian Zier: The other half of the apple'. Riccardo Scamarcio meets Sebastian Zier) in Villa Orselina, Locarno-Orselina.copyright by www.steineggerpix.com & www.saporiticino.ch 2020 / photo by remy steinegger+++ no resale / no archive +++

Einer der besten Gänge 2020: Apfel mit Buchweizen-Taco und Milcheis.

Wohin reisen Sie, wenn es wieder losgehen kann?

Darüber mache ich mir keinen Kopf. Ich werde im Januar Vater, deshalb werden wir die nächsten zwölf Monaten kaum Flugreisen unternehmen, sondern höchstens mit dem Auto irgendwohin in der Nähe fahren.

 

Und bei wem wollen Sie unbedingt essen?

Da gibt es so viele: Ich war noch nie bei Christian Bau, ich war zu meiner eigenen Schande noch nie in Crissier, und ich war in vielen Restaurants ohne Sterne und Punkte in der Gegend noch nicht, wo ich längst mal hinmöchte.

 

Gemüse war bei vielen Spitzenköchen in letzter Zeit ein grosses Thema. Welcher Trend kommt als nächstes?

Der Gemüsetrend ist noch nicht zu Ende, und ich finde das auch sehr spannend. Nur im Dessert überzeugt mich das nicht. Immer mehr Restaurants arbeiten viel enger mit Gemüsebauern zusammen, da kommt sicher noch viel Interessantes auf uns zu. Aber auch beim Fleisch passieren interessante Dinge, man bekommt immer bessere Produkte, die direkt vor der Haustüre wachsen und nicht mehr um die halbe Welt geflogen werden müssen.

 

Womit verbringen Sie Ihre Freizeit?

Ich lese sehr gerne – das sind mehrere Dutzend Bücher pro Jahr. Ich fahre gerne Auto, und ich verbringe gerne Zeit mit meiner Frau.

 

Welches Buch, das Sie zuletzt gelesen haben, können Sie empfehlen?

«Das Graue Phantom» von Clive Cussler und Robin Burcell; es geht um ein geklautes Auto in Grossbritannien und die anschliessende grosse Jagd nach diesem Wagen.

Hotel Einstein, St. Gallen

«Wir stehen verhältnismässig gut da»: das Restaurant Einstein mit Blick auf St. Gallen.

LOCARNO-ORSELINA, 13.10.2020 - Chef Sebastian Zier and his Kitchen Brigade. S. Pellegrino Sapori Ticino 2020 'Sebastian Zier: The other half of the apple'. Riccardo Scamarcio meets Sebastian Zier) in Villa Orselina, Locarno-Orselina.copyright by www.steineggerpix.com & www.saporiticino.ch 2020 / photo by remy steinegger+++ no resale / no archive +++

«Team Einstein» für 2021: Pascal Hobler, Alexander Fink, Richard Schmidtkonz, Sebastian Zier, Loris Lenzo, Mathias Schranz (v.l.).

Was befindet sich immer in Ihrem Kühlschrank?

Frischer Orangensaft und dahinter eine Flasche Champagner.

Was essen Sie aus Prinzip nie?

Da gibt es mittlerweile fast nichts mehr. Ich würde auch Insekten probieren, wenn sie im Restaurant serviert werden. Was ich nicht mag und nicht zubereite sind Seeigel und Flusskrebse.

 

Und was essen Sie täglich?

Es gibt kein Ritual, weil ich nicht frühstücke, sondern erst im Betrieb esse, und es da immer etwas anderes gibt.

 

Welches war das beste Bild, dass Sie dieses Jahr auf Instagram gesehen haben?

Ich bin ehrlich gesagt sehr selten auf sozialen Medien. Geblieben ist mir der Post von Clemens Rambichler, der das Waldhotel Sonora vom leider verstorbenen Helmut Thieltges übernehmen konnte. Es war eine tolle Nachricht, dass ein junger Kollege in die Fussstapfen eines legendären Kochs treten kann, der für meine Generation in die Liga von Harald Wohlfahrt gehört.

 

>> Was war, was kommt? Der GaultMillau Channel zieht Bilanz: Mit zehn Starchefs, die in diesem speziellen Jahr mit individuellen, besonderen Herausforderungen konfrontiert waren. Tanja Grandits, Sebastian Zier, Stefan Heilemann, Nenad Mlinarevic, Ivo Adam, Tobias Funke, Laurent Eperon, Bernadette Lisibach, Marco Campanella und Markus Stöckle im sehr persönlichen Chef's Talk.

 

>> Fotos: Nik Hunger, Fabienne Bühler, Remy Steinegger