Text: David Schnapp

Rudi Bindella, ganz direkt gefragt: Steckt die Gastronomie in der Krise?
Die schwierigste Frage gleich zuerst… Nach Covid herrscht für viele Leute wieder Normalität, aber die Gastronomen brauchen etwas länger, weil uns die zwei Jahre massiv zugesetzt haben. Der Markt wurde komplett durcheinandergebracht, das sieht man beispielsweise im Weinhandel, wo Gastronomiekunden zeitweise ganz weggebrochen sind, während die Nachfrage bei Privatkunden gestiegen ist. Aber es ist nach wie vor so, dass sich die Menschen treffen wollen, und die Gastronomie gestaltet dafür die Orte.


Personalmangel ist ein grosses Thema, das nach zehn Sekunden aufkommt, wenn zwei Gastronomen zusammenstehen. Zu Recht?
Der Fachkräftemangel war schon vor der Pandemie spürbar, jetzt hat sich das noch akzentuiert. Die Leute waren ohne Arbeit zu Hause, aber mindestens teilweise bezahlt und haben über ihre Zukunft nachgedacht: Einige haben beschlossen, zurück in ihre Heimat zu gehen, andere sind in eine nach ihrer Ansicht weniger risikoanfällige Branche gewechselt. Die Krise hat aber vor allem zu einer anderen Arbeitseinstellung geführt: Man will nicht mehr so viel arbeiten, schon gar nicht am Wochenende, und auch die Zimmerstunde ist noch unbeliebter geworden. Schliesslich ist der Lohn ein grosses Thema. Aber die Erfolgsrechnung eines Restaurants hat nun mal ihre Grenzen. Zum Glück bleibt es so, dass viele Leute gerne in der Gastronomie arbeiten, weil das ein besonderes Team- und Gemeinschaftserlebnis ist. 


Kommt die Freude daran, für andere Menschen eine Dienstleistung zu erbringen, aus der Mode?
Das klingt nach einer gewagten These, aber sie trifft wohl teilweise zu. Aber ich bin Optimist: Das wird sich wieder ändern. 
 

Rudi Bindella besucht Winterthur 2022

«Man will nicht mehr so viel arbeiten»: Rudi Bindella Jr. im «National» beim Bahnhof Winterthur.

Welches ist unternehmerisch zurzeit Ihre grösste Herausforderung?
Gute Leute zu finden und zu halten, ist sicher etwas vom Wichtigsten. 40 Prozent Fluktuation sind in der Branche normal, aber wenn es – wie in den letzten Jahren – mehr wird, ist es ein Problem und verursacht hohe Kosten. Aber noch wichtiger ist aus Sicht des Unternehmens die Ertragslage, die durch die Pandemie auf den Kopf gestellt wurde. Wenn man zwei Jahre lang immer wieder über Wochen und Monate Betriebe schliessen muss, wirkt sich das natürlich negativ auf die Rentabilität aus. Die Identifikation mit dem Unternehmen und die Motivation für den Job wieder aufzubauen, fordert uns sehr.


Und was kommt in mittlerer Zukunft auf Sie zu?
Das folgt aus der vorhergehenden Antwort. Für die Rekrutierung müssen wir neue Wege gehen. Einer unserer Lösungsansätze ist, direkt in Italien Leute zu suchen, schliesslich sind wir eine italienisch geprägte Firma. Das ist aber komplex und aufwendig, die Leute müssen ja hier beispielsweise auch wohnen können. Auch Kanäle wie LinkedIn können wir noch besser mit einer neuen Art der Ansprache nutzen, und für beide Aufgaben haben wir mittlerweile spezialisierte Leute in der Firma.


Sie haben auch schon Pläne für eine eigene Akademie skizziert, wie sieht es damit aus?
«Akademie» war vielleicht ein zu grosses Wort, aber wir haben tatsächlich einen neuen Pizzaiolo-Kurs etabliert, wo wir interessierte Kandidaten während eines Jahres ausbilden und so jeweils rund zehn Fachleute finden, die für unsere Betriebe wichtig sind.
 

Ristorante Zafferano

Ausbildung für Profis: Pizzaiolo im «Zafferano» in Zürich.

Ristorante Zafferano

«Die Attraktivität der Stadt und die Betriebsdichte dort steigt»: Ristorante Zafferano am Limmatquai in Zürich.

Abgesehen von Ihrem eigenen Unternehmen, wo sehen Sie die dringendsten Probleme der Gastro-Branche?
Ich stelle fest, dass viele Wirtepaare oder Gastronomen frustriert sind, und dass die, welche es sich leisten können, aufhören. Manchmal entstehen daraus Chancen – zum Beispiel für ehemalige Angestellte von uns, die sich in solchen Häusern selbstständig machen. Die Attraktivität der Stadt und die Betriebsdichte dort steigt hingegen, es findet also eine Verschiebung statt. Die Nachwehen der Corona-Jahre kommen mit Verzögerung, befürchte ich. 


Aber die Nachfrage bei den Gästen sinkt ja nicht, oder?
Das stimmt, es ist allerdings schwierig, die Psychologie der Gäste einzuschätzen oder gar vorauszusagen. Man könnte angesichts von Krieg und wirtschaftlicher Unsicherheit annehmen, dass die Leute beim Ausgehen sparen, aber das ist bisher nicht der Fall. Die Lust am Restaurant ist ungebrochen, was sich aber auch schnell wieder ändern kann.


Sie nehmen bei Ihrem Prestige-Restaurant «Ornellaia» einen Konzeptwechsel vor, Starchef Antonio Colaianni verlässt die Firma. Gab es keine Möglichkeit, das Lokal als eine Art Leuchtturm-Betrieb zu halten?
Das «Ornellaia» war tatsächlich unser Leuchtturm, aber irgendwann hat sich uns die Frage gestellt, wieviel Aufwand uns dessen Strahlkraft wert sein soll. Zudem hatten wir zunehmend mehr Mühe, geeignete Leute für die Küche zu finden, obwohl man bei Antonio eigentlich viel lernen könnte. Und im Service war die Personalsuche noch aufwendiger. Wir wussten allerdings immer: Hochstehende Gastronomie ist mit unglaublich hohen Investitionen verbunden.

31.10.2022; Zürich: GMC - Ristorante Ornellaia; Antonio Colaianni bereitet die „Birnentarte mit Pecora blu“ vor. © Valeriano Di Domenico

«Unser Leuchtturm»: Rudi Bindella Jr. über das «Ornellaia» und Starchef Antonio Colaianni.

Lasagne by Antonio Colaianni mit Rinderbacken-Ragout, frittiertem Teig, Parmesan und Burrata-Creme

Unvergessliche Gerichte: Antonio Colaiannis Lasagne mit Rinderbacken-Ragout, frittiertem Teig, Parmesan und Burrata-Creme.

Hinterlässt Antonio ein Gericht, das Ihnen unvergessen bleibt?
Davon gibt es sogar mehrere, aber eines, von dem ich wohl noch träumen werde, ist sein Rinder-Tatar mit lauwarmem Kartoffelschaum.
 

Was kommt danach, wie sieht die künftige Karte im «Ornellaia» aus?
Wir bleiben italienisch auf hohem Niveau wie beispielsweise im «Conti» in Zürich oder im «Barbatti» in Luzern. Mit Frederico Pinelli haben wir einen hervorragenden Executive Chef in der Gruppe, der die Karte geschrieben hat. Darauf stehen – neben einigen Klassikern – viele Gerichte, die man bei uns sonst nicht sieht. Dennoch: Antonio hinterlässt eine grosse Lücke, die nicht schnell zu schliessen sein wird.


Mit dem «Più» an verschiedenen Standorten, mit der Trattoria Sempre und zuletzt mit dem «Zafferano» in Zürich haben Sie erfolgreich neue Konzepte etabliert. Welches ist Ihre Vorstellung von moderner Italianità?
Ich bin ein Sowohl-als-auch-Typ. Wir haben ein starkes kulinarisches Fundament von italienischer Tradition mit Klassikern, die Klassiker bleiben werden. Aber damit will ich mich nicht zufriedengeben. Deshalb versuchen wir, den Zeitgeist mit neuen Konzepten aufzunehmen. So passen wir uns an eine neue Generation an und wir sehen auch, dass uns das gelingt. Wir werden aber nicht jedes «Santa Lucia» in ein «Più» umwandeln, die Koexistenz verschiedener Stilrichtung ist spannend. Unser Ziel muss es sein, der Klassenprimus in italienischer Lebensfreude zu sein. 
 

Ristorante Sempre 2021

«Klassenprimus in italienischer Lebensfreude»: Trattoria Sempre im Niederdorf.

Piu Zug

«Verschiedene Stilrichtungen sind spannend»: neues «Più» in Zug.

Welche neuen Projekte haben Sie?
Mit der Marke Più importieren wir jetzt auch Lebensmittel direkt vom Produzenten, und wir handeln mit einer neuen Art von Wein, welche die Generation ab 25 Jahren anspricht. Da geht es natürlich um den Preis, aber auch um das Design der Etiketten. Aber auch Bio ist ein Thema, und wir öffnen uns hin zu anderen Ländern. Es wird in Zukunft bei uns auch Wein aus dem Languedoc oder Riesling aus Deutschland geben. Italianità ist für mich nicht an ein Land gebunden, es ist eine Haltung und eine Lebenseinstellung. Die Italiener sind in die ganze Welt ausgewandert, und haben in der Schweiz, aber auch in den USA oder in Südamerika für spannende Fusionen mit den Kulturen gesorgt, die sie dort vorgefunden haben.


Sie reisen oft, um sich neue Konzepte anzuschauen. Was ist Ihnen zuletzt positiv aufgefallen?
Ich war gerade in Paris und habe mir die Big Mamma Group angeschaut, die mit Konzepten wie «Big Mamma Tattoria» oder «Ave Mario» international beeindruckende Betriebe aufgezogen hat. Aber man sieht dann halt auch, wo die Probleme liegen, wenn man ein Konzept skaliert. 

Al Dente Luzern_Barbatti

«Etwas einfach kopieren, ist zu einfach»: Ristorante Barbatti in Luzern.

Rudi Bindella Trattoria Sempre

«Spannende Fusionen der Kulturen»: Rudi Bindella Jr. in der Trattoria Sempre.

Haben Sie etwas gesehen, dass als Bindella-Betrieb in Frage käme?
Freunde haben mir geraten, unbedingt etwas wie das erfolgreiche «Carbone» in Miami umzusetzen. Ich würde aber nie etwas einfach kopieren, das ist mir zu einfach.


Was ist Ihr nächstes Projekt?
Ab dem 24. April 2023 übernehme ich von meinem Vater zusätzlich die Verantwortung für die Weinhandlung. Dafür bin ich gerade viel unterwegs, weil persönliche Beziehungen in diesem Geschäft entscheidend sind. 

 

Fotos: Rico Rosenberger, Ellin Anderegg, Thomas Buchwalder, Remy Steiner, HO