Text: Colin Bätschmann

Das Geschäft läuft gut. Eine halb verglaste Werkstatttür trennt Ludwig Hateckes Büro von seiner Metzgerei. Zwei Schreibtische, zwei Drucker, ein Telefon, Locher und Hefter, ein paar volle Sichtmappen und Aktenschränke. Der graue leere Tisch in der hinteren Ecke, das ist der Arbeitsplatz des Chefs. Wenn er denn hier arbeiten würde. Denn eigentlich ist Ludwig Hatecke (grosses Bild oben) nie im Büro. Hatecke ist Metzgerei-Unternehmer und führt Geschäfte in Scuol, Zernez, St. Moritz sowie einen Laden mit Bistro in Zürich. 30 Mitarbeitende beschäftigt er, darunter seinen Sohn David. Hatecke selbst ist meist am Löwenplatz in Zürich anzutreffen. Das Geschäft läuft gut: Die Tische im Bistro sind mittags und abends besetzt, Kassenschlager ist das Rindstatar für 35.50 Franken. Auch wenn er sich über den Rummel freue, sein Plan sei eigentlich ein anderer gewesen, sagt Hatecke. Das Geschäft in Zürich sollte den lauen Betrieb in den Engadiner Filialen während der Nebensaison ausgleichen – mehr nicht. «Wir sind nicht hier, um Geld zu scheffeln», sagt der 68-jährige Unternehmer. Viel wichtiger seien ihm zufriedene Angestellte; die Voraussetzung dafür, dass sein Sohn David den Familienbetrieb dereinst übernehme.

Mit 14 Kilo Bündner Fleisch nach Madagaskar. Juni 2022. Einmal mehr sitzt Unternehmer Ludwig Hatecke nicht an seinem Schreibtisch in Scuol, sondern, mit 14 Kilogramm Entrecôtes und Bündnerfleisch im Gepäck, in einem Flugzeug nach Antananarivo. Auf Einladung des Schweizer Botschafters in Madagaskar – ein Engadiner aus dem Nachbardorf – soll Hatecke in einem Haute-Cuisine-Restaurant in der Hauptstadt des afrikanischen Inselstaats schweizerisch-madegassische Delikatessen kreieren. Der Abend wird ein voller Erfolg. Einzig, dass die Angestellten des Restaurants ihn achtungsvoll mit «Chef» ansprechen, ist Hatecke etwas unangenehm. Und schliesslich erfüllt der Ausflug noch einen weiteren Zweck: Auf dem Heimweg hat Hatecke zwar kein Fleisch mehr, dafür aber raue Mengen Madagaskar-Pfeffer im Gepäck. Damit verfeinert er seine Rindfleisch-Salsize Augusto, die bei einem Gewicht von 210 Gramm 25 Franken kosten.

Hatecke

Engadiner Rohesspeck: liebevoll drapiert, fast wie ein Kunstgemälde.

Hatecke

Ludwig Hatecke in seinem Element. Beim Fleischschneiden.

Hatecke

Typische Hatecke-Form: Dreieckiger Salsiz aus Rind & Hirschfleisch. 

Sein Handwerk beherrscht er noch immer. Auch wenn es fünf Jahre her ist, seit Ludwig Hatecke das letzte Mal an der Schlachtbank stand: Sein Handwerk beherrscht er noch immer. Im Angesicht des rauschenden Wurstfüllers zieht er seine Jacke aus und krempelt die Ärmel seines hellblauen Hemds hoch. Unter der schwarzen Schürze, die ihm bis zu, Schienbein reicht, trägt er Jeans und italienische Luxus-Sneakers, in denen er ohne Wimpernzucken in die Blutstropfen am Boden tritt – ein Metzger in Business Casual. Geübt packt er jetzt die Rindshaut, die der langjährige Mitarbeiter zu seiner Rechten mit einer Mischung aus gehacktem Rindfleisch, Meersalz und Madagaskar-Pfeffer gefüllt hat, und legt sie unter den Wurstclipper. Seine Mundwinkel spannen sich, als er die Enden des ersten Salsiz mit Metallklammern zutackert. Nach einer Handvoll Klammern findet er in den Rhythmus. Der Metzgerberuf hat bei Hateckes Tradition. Der Urgrossvater kam 1864 aus Stade bei Hamburg als Zimmermann ins Engadin, wo geschickte Handwerker für den Hotelbau gebraucht wurden. Doch schon der Grossvater sattelte um. Ludwig Hateckes Vater eröffnete in den 50er-Jahren eine Metzgerei in Zernez und kaufte Ende 70er das Restaurant Felsenkeller mit dazugehörender Metzgerei in Scuol – das Haus, in dem Hatecke bis heute produziert.

Geliefert von Engadiner Bergbauern und Jägern. Als der Vater 1983 den Stab an den Sohn weiterreichen wollte, konnte dieser ihm den Wunsch nicht abschlagen, obschon Ludwig als begeisterter Kletterer viel lieber Hochspannungsleitungen montiert hätte. Den Beruf des Metzgers empfand er als grob – eine Einschätzung, die auch dadurch erwuchs, dass sein Kinderzimmer direkt über dem Schlachtraum lag. Ludwig Hatecke wusste, dass er es anders machen würde: höchste Fleischqualität dank Tieren, die direkt auf dem Hof oder in den hauseigenen Schlachthöfen geschlachtet werden – geliefert von Engadiner Bergbauern und Jägern –, sowie grösste Sorgfalt in der Verarbeitung. Die Metzgerei sei ein feiner Beruf, und als solcher müsse er wahrgenommen werden, wenn er nicht aussterben soll, sagt Hatecke. Metzger gehört in der Schweiz zu den unbeliebtesten Berufen. Viele Lehrstellen bleiben unbesetzt.

Tranchen wie vom Sushimaster. Seit 30 Jahren empfängt Ludwig Hatecke einmal pro Woche Touristen im alten Reiferaum des «Felsenkellers» in Scuol, um sie für alpines Fleischhandwerk zu begeistern. Im lichtdurchfluteten Zimmer mit abgewetzten Holzdielen und altertümlichen Stromleitungen steht dann ein fünf Meter langer, massiver Holztisch und darauf sechs schwarz glänzende Servierplatten. Der Gastgeber bietet seinen Gästen Bündnerfleisch, Hirschtrockenfleisch und Salsiz zur Degustation an. Die rohen Fleischscheiben sehen aus, als hätte sie ein Sushi-Meister angerichtet. Hatecke referiert über Vitamine, Mineralstoffe und Eiweisse, erzählt vom Einschmieren der Rückenstücke mit Fett, geniessbarem und unförmigem Schimmel und dem Fleisch alter Kühe. «Je älter, desto besser», sagt er. Klingelt sein Handy, reagiert er nicht, dafür ist Hatecke viel zu höflich.

Das Wort Gastgeber nimmt er wörtlich. «Man muss den Gästen mehr geben, als sie erwarten», sagt Hatecke. Deshalb kriegt Kundschaft in seinen Verkaufsläden in St. Moritz und Zürich auch mal ein Gläschen Barbera d’Alba oder einen Espresso offeriert. Um der Gastgeberrolle gerecht zu werden, scheut er keine Kosten. In Zürich hat er den Dachstock über seinem Bistro gemietet, um einmal im Monat Gäste zu empfangen, die mitten in der Arbeitswoche und mitten in der Stadt ein wenig Engadiner Luft schnuppern wollen. Sogar die Berge sieht man von dort oben. Ludwig Hatecke ist ein Verkäufer, bei dem es auch mal ein bisschen weniger sein darf. «Fleisch ist wertvoll», sagt er, zu wertvoll, um es für einen Hamburger von McDonald’s zu verschwenden. Was kostbar ist, soll auch so aussehen, findet er. Deshalb gleichen seine kühlen Filialen mit ihren Marmorwänden und der puristischen Auslage eher Kunstgalerien als Fleischerläden.

Wertschätzung fürs Fleisch. Und dennoch: Als Edelmetzger oder gar hochtrabenden Ästheten, wie er in der Zürcher Tagespresse zuweilen beschrieben wurde, sieht er sich nicht. Jedes ästhetische Detail erfülle einen Zweck: Das Fleisch in seiner Auslage sei nur deshalb nicht von Preis- oder gar Aktionsschildern verdeckt, um es der Kundschaft möglichst nahezubringen und mehr Wertschätzung zu schaffen. Auch wickelt Hatecke seine Fleischware nicht nur in schwarzes Papier, weil es besser aussieht. Schwarz lasse kein Sonnenlicht durchscheinen, welches das Trockenfleisch innert Minuten verfärben würde. Und dann ist da noch der berühmte dreieckige Hatecke-Salsiz, dessen Form unter Musterschutz steht. Dreieckig ist dieser nämlich nicht nur, damit er sich von den viereckigen Exemplaren der Konkurrenz unterscheidet, sondern weil er sich besser schneiden lässt.

In Scuol kennt Hatecke alle, alle kennen Hatecke. Sein ganzes Leben hat er im Unterengadin verbracht: Aufgewachsen und zur Schule gegangen in Zernez, seit über 40 Jahren in Scuol. Erst mit 15 fuhr er erstmals in die Sommerferien – an den Vierwaldstättersee. In der Lehre öffneten sich ihm neue Welten, er entdeckte das St. Gallische, besuchte später die Handelsschule in Zürich und fand Arbeit bei einem Metzger in Genf. Im Ausland leben habe er nie gewollt, sagt Hatecke, da sei er anders als sein Bruder, ein Bankier in Singapur. Und trotzdem: Seit Hatecke 2017 die Filiale in Zürich eröffnet hat, ist der Chef öfters im Unterland anzutreffen als in den Bergen. Und manchmal sogar auf Madagaskar.

Hatecke

Puristische Filiale: Ludwig Hatecke mit Sohn David am Verkaufstresen in St. Moritz. 

Dem Rhein entlang. Bis ans Schwarze Meer. Besuchen Hatecke Gäste, die das Unterengadin nicht kennen, verwandelt sich der Engadiner gar zum Reiseführer. In seinem schwarzen Fiat Panda mit Allradantrieb kurvt er dann durch die engen Gassen von Guarda, wo er als Kind auf dem Bauernhof von Verwandten aushelfen musste. Oder er erklimmt die wendige Strasse nach Tarasp, der katholischen Enklave, wo ihm das trotzig zur Schau gestellte Kreuz an höchster Stelle des Dorfs ein anerkennendes Schmunzeln entlockt. Auf dem Weg nach Lavin weiss er, welche Wälder im Mittelalter gerodet wurden, wer welches Hotel gekauft hat, welche Fichten vom Borkenkäfer befallen sind und seit wann. Blickt Ludwig Hatecke dann hinunter zum Fluss Inn, sagt er: «Irgendwann will ich ihm folgen, bis ans Schwarze Meer.»

>> www.hatecke.ch

 

Fotos: Filip Zuan, Benjamin Hasenclever