Text: David Schnapp Fotos: Giorgia Panzera

Der Koch und sein Garten. Der Garten um seinen Arbeitsplatz spielt eine Hauptrolle in der Küche von Stefano Baiocco. Der Italiener arbeitet seit 2004 in der sagenumwobenen Villa Feltrinelli am Gardasee, sein Restaurant wird mit zwei Michelin-Sternen bewertet und sein Salat aus 150 (!) verschiedenen Kräutern, Blüten und Blättern, die vollständig aus eigenem Anbau stammen, ist eine Ikone der zeitgenössischen italienischen Küche.

Kräuter Stefano Baiocco

Frisch aus dem Garten: Stefano Baioccos «Bouquet di erbe» in der Villa Orselina.

Der Salat. Bei seinem Auftritt am diesjährigen Gourmetfestival S. Pellegrino Sapori Ticino am Montagabend in der Villa Orselina oberhalb Locarnos bekommen die 75 Gäste zwar dieses Gericht nicht serviert, aber Baiocco schafft es dennoch, mit seinen Kräutern und einem subtilen Aromenspiel zu beeindrucken. Auch wer an den Gardasee fährt, muss «L’insalata» im Voraus bestellen. «Die Zubereitung ist äusserst aufwendig, von jeder Pflanze kommt nur ein Blatt auf den Teller, sie werden alle am Vormittag frisch gepflückt, um dann abends serviert werden zu können», erklärt der fröhlich-energiegeladene Italiener seinen wichtigsten Teller.

Stefano Baiacco Küche

«Ein demokratisches Gericht»: Stefano Baiocco richtet für den Abend am Festival S. Pellegrino Sapori Ticino an.

Ein Welthit. Es sei genau deshalb ein «demokratisches Gericht», weil eben nur je ein Blatt auf den Teller komme, so Baiocco. «Aber im Mund, wenn sich dann alles miteinander vermischt, wird daraus die reine Anarchie», erklärt der Chef. Dass sein Salat so etwas wie der Welthit einer bekannten Band geworden ist, stört den Küchenchef nicht. «Wir kochen ja nicht nur dieses eine Gericht, und ich habe in meiner Arbeit genügend Freiheiten, so dass nie Eintönigkeit aufkommt», sagt er.

Wichtigste Eigenschaft: Sauberkeit. Entdeckt hat den weitgereisten Koch, der unter anderem bei Alain Ducasse, Pierre Gagnaire und Ferran Adrià gearbeitet hat, übrigens ein Schweizer: Markus Odermatt, Direttore Generale des Grand Hotel a Villa Feltrinelli, erzählt die Anekdote, wie er auf Stefano Baiocco aufmerksam wurde: «Ich habe einen Koch gesucht, der grossen Wert auf Sauberkeit legt. Stefano hat damals im ‹elBulli› gearbeitet und Ferran Adrià hat mir gesagt, er habe keinen anderen Mitarbeiter, der so sauber arbeite.» Bis heute werde die Feltrinelli-Küche nach dem Service eine Stunde lang akribisch geputzt, «das sieht dann aus wie in einem Spital, wo am nächsten Tag eine anspruchsvolle Operation stattfindet», sagt Odermatt. Für seine exklusive Kundschaft brauche es Perfektion in jedem Detail.

Sapori Ticino

Schweizer Entdecker: Markus Odermatt (Mitte) hat Stefano Baiocco an den Gardasee geholt; auf dem Bild mit Sapori-Chef Dany Stauffacher und Villa-Orselina-Direktor Daniel Schälli.

Perfektes Erlebnis. Gute Ordnung und Struktur sind gerade in der Spitzenküche Voraussetzungen für Höchstleistungen, im Falle Stefano Baioccos ist das vielleicht auch daran zu erkennen, wie er mit erstaunlicher Lockerheit das Gastspiel im Tessin bestreitet. Im eigenen Restaurant arbeiten 16 Köche für 36 Gäste, mit sechs Kollegen und der Unterstützung von Villa-Orselina-Küchenchef Riccardo Scamarcio schafft es der Italiener aber auch in der fremden Umgebung für doppelt so viele Leute ein nahezu perfektes kulinarisches Erlebnis zu kreieren.

Shiso und Wagyu. Sein feines Gespür für Kräuter beweist Baiocco gleich zu Beginn mit zwei Shiso-Blättern zwischen denen etwas mit Ponzu-Sauce mariniertes Wagyu-Beef versteckt ist, oder einer Mini-Version seines «Insalate» mit verschiedenen Salaten und Kräutern, die frisch, ätherisch und geheimnisvoll schmecken. «Ich koche natürlich italienisch», sagt der Koch über seinen Stil, er verwende zu 90 Prozent italienische Produkte, aber natürlich sei sein Stil modern. Das ist dann zum Beispiel an der faszinierenden Meeres-Lasagne zu erkennen, ein vegetarisches Gericht, das komplett ohne Fisch oder Meeresfrüchte auskommt und dennoch den konzentrierten jodigen Geschmack des Ozeans wiedergibt. Algen und andere Meerespflanzen sorgen für diesen erstaunlichen Effekt.

Viele Gedanken. Kochen, sagt Stefano Baiocco, sei vor allem Kopfarbeit. Natürlich sei Essen eine Bauchsache, «aber vor, während und nach einem Service muss man sich sehr viele Gedanken machen, damit etwas gut oder sogar aussergewöhnlich wird», ist der Italiener überzeugt. Ein Beispiel dafür sind vielleicht die beiden aussergewöhnlichen Desserts. Zunächst eine komplett in Weiss gehaltene Kombination aus Kokosmousse und einem Eis, das durch eine Emulsion aus Feigenbaumblättern – natürlich aus dem Feltrinelli-Garten – ein konzentriertes, leicht grünes Feigenaroma erhält. Danach gibt es eine Kaffeecreme, darauf ein mürbes, dünnes Gebäck sowie Kapern und Majoran aus eigenem Anbau. Das Ergebnis ist nur dezent süss, leicht bitter und etwas salzig, ein letztes Statement eines hervorragenden Kochs und der Schluss eines Menüs, welches die Tessiner Gäste übereinstimmend als «una serata meravigliosa», einen wunderbaren Abend zusammenfassen.