Fotos: Joan Minder

Der Leader. «Meine Mutter wird nächste Woche 80. Zu ihrem Geburtstag wäre ich natürlich gerne nach Hause gefahren, aber es braucht mich hier in der Küche.» Der Mann, der dies sagt, heisst Sebastian Zier. Er ist 48 Jahre alt und seit ziemlich genau zehn Jahren Executive Chef im Hotel Einstein in St. Gallen. Der gebürtige Schwabe, der aus Überzeugung und aus Verbundenheit mit der alten Heimat nur Mercedes fährt, wird in der Küche gebraucht, weil er mit dem «Einstein Gourmet» auch ein Restaurant mit 18 GaultMillau-Punkten und zwei Michelin-Sternen in seinem Aufgabenheft stehen hat. Und der Satz sagt viel aus über Ziers Selbstverständnis als Leader. Grosses Bild oben: Sebastian Zier, Kaisergranat mit Bisque, Mango-Kalamansi-Creme, Ananas und Poulet-Curry-Salat

Es braucht jeden. Mit dem 32-jährigen Richard Schmidtkonz hat er zwar schon seit vielen Jahren einen kreativen Partner an der Seite, der offiziell längst die Position des Küchenchefs im «Einstein Gourmet» besetzt. Aber Sebastian Zier sagt, bei nur fünf Leuten brauche es jeden in der Küche, um das Qualitätsniveau zu garantieren, das er sich vorstellt. Zum Haus gehört auch das Bistro St. Gallen (14 Punkte), wo es morgens Frühstück und danach ganztags ein Angebot gibt – Sankt Galler Bratwurst selbstverständlich inbegriffen. Von der Bistroküche aus wird zudem der Room Service abgewickelt und die Hotelbar bedient. Es gibt für den obersten Koch im Haus also einiges zu tun.

Big Green Egg Einstein Gourmet

Ganz nah am Feuer: das Big Green Egg hat einen festen Platz in der Küche.

Pluma Iberico mit Grillbeilagen

Geometrische Formen: Pluma Iberico vom Holzkohlegrill mit «Grilllbeilagen».

Richard Schmidtkonz Sebastian Zier

Kreative Partnerschaft am Herd: Sebastian Zier und Richard Schmidtkonz im Hotel Einstein.

Viel Mühe auf dem Teller. Sebastian Zier, Vater zweier kleiner Kinder, könnte sich das (Arbeits-)Leben wohl einfacher machen. Doch die Rolle des Küchenchefs, der die meiste Zeit im Büro am PC verbringt, passt nicht zu ihm. Auch mehr Aufgaben zu delegieren oder Gerichte mit niedrigerer Komplexitätsstufe zu kreieren, ist nicht sein Ding. Die Teller im «Einstein Gourmet» signalisieren dem Gast, dass sich hier jemand richtig viel Mühe gemacht hat. Geometrische Formen, aufwendige Gestecke, einzeln drapierte Kräuter, gefüllte Röllchen und viele Dinge mehr sind zu entdecken. Es gibt dafür den abschätzigen Begriff «Angeberteller», aber das Wort wird der Sache überhaupt nicht gerecht. Das kongeniale Duo Zier-Schmidtkonz bringt ästhetische und geschmackliche Wunderwelten auf den Teller, die dem Gast eine Entdeckungsreise mit Messer, Gabel und Gaumen eröffnen. Während man – im übertragenen Sinn – durch diese Landschaften wandelt, stösst man auf immer neue Aspekte von Aromen, Konsistenzen und Texturen, die Freude, Überraschung oder Erstaunen auslösen.

Loris Lenzo Einstein Weinkeller

Über 3100 Positionen: Sommelier Loris Lenzo im spektakulären Weinkeller des Hotels.

Sebastian Zier St. Gallen

Der Anfang war schwer: Sebastian Zier im «Einstein Gourmet»; im Hintergrund das Klosterviertel.

Ein Dutzend Komponenten. Die ornamentale, blumig-fruchtige, aber auch fettig-rauchige Kombination aus Rhabarber und Entenleber etwa besteht aus rund einem Dutzend Komponenten, darunter Foie gras als Terrine, als Eis und in pochierter Form, Muscovado-Brösel, Rauchaalstücken, Rhabarber als Creme und Gel sowie als Sud mit Holunderblüte und Pfefferminze.«Qualität kommt von Quälen» steht auf einem Blatt, das an der riesigen Abzughaube in der Küche hängt. Der Spruch wirkt angesichts der verbreiteten gesellschaftlichen Grundstimmung zwischen Selbstoptimierung, Homeoffice und Work-Life-Balance völlig aus der Zeit gefallen, passt aber perfekt zum Arbeitsethos und zur Grundeinstellung des Teams unter der Führung von Sebastian Zier und Richard Schmidtkontz. «No Limits», nennen sie ihren Ansatz beim Kreieren neuer Gerichte. «Es geht darum, weit und breit zu denken und dabei den Geschmack nie aus den Augen zu verlieren», sagt Zier. Den Aspekt betont er mehrfach. «Wenn Fleisch und Sauce stimmen, ist schon viel erreicht», findet er.

Team Einstein Gourmet

Voller Einsatz: Fünf Köche arbeiten im «Einstein Gourmet».

Foie Gras Rhabarber Einstein St. Gallen

Wunderwelten auf dem Teller: Foie Gras, Rhabarber und Rauchaal.

Pinboard Einstein Gourmet

Gut organisiert: das Pinboard in der Küche des «Einstein Gourmet».

Jeder zieht mit. Geschmacklich und optisch «brutal starke Gerichte zu entwickeln», darum geht es dem Duo Zier und Schmidtkonz. Und trotz der aufwendigen Teller müsse es immer einen Sinn ergeben, fügt Ziers Partner Richard Schmidtkonz an.Zum Team-Spirit gehört, dass jeder im kleinen, fünfköpfigen Team mitzieht und mithilft, die Grenzen immer noch etwas nach aussen zu verschieben. Sebastian Zier, ganz der leidenschaftliche Autofahrer, vergleicht es mit Kurven: «Du versuchst immer, sie noch etwas schneller anzufahren, bis du den Grenzbereich erreichst.» Und der Grenzbereich ist in diesem Fall dort, wo das Fahrzeug die Stabilität verliert. Diese Gefahr besteht im eingespielten «Einstein»-Ensemble nicht. Selbst während der Service läuft, würden oft neue Dinge ausprobiert, «jeder und jede ist bereit, sich dafür ein wenig zu quälen», sagt Sebastian Zier.

Keine Missverständnisse: Der Koch, in dessen Lebenslauf die «Schwarzwaldstube» bei Harald Wohlfahrt in Baiersbronn oder das Restaurant La Mer auf Sylt steht, gehört zu den umgänglicheren Chefs im Land und führt eher freundschaftlich-familiär als mit militärischer Strenge. Dabei war bei Ziers Stellenantritt vor zehn Jahren überhaupt nicht klar, dass der Koch selbst, das «Einstein» und St. Gallen zueinander passen würden. Nach einem ersten Besuch und Gesprächen mit Verantwortlichen, darunter Akris-CEO und Hotelmitbesitzer Peter Kriemler, sah Zier für sich zunächst keine strahlende Zukunft und kaum Voraussetzungen für hochstehende Kochkunst. Aber der erklärte Wille der Eigentümerfamilie war überzeugend genug, und Sebastian Zier konnte damit beginnen, die kulinarische Qualität im Haus zu heben.

Sebastian Zier Richtar Schmidtkonz

«Brutal starke Gerichte»: Executive Chef Sebastian Zier und Küchenchef Richard Schmidtkonz.

Predessert Shiso Apfel

Predessert von Pâtissier Julian Koch: Getreide, Shiso, Apfel und Kiwi.

Qualität, Geschmack, Ästhetik. Mittlerweile gibt es je eine eigene Küche für das Bistro und im «Einstein Gourmet», wo davor die einzige Küche im Haus untergebracht war, und man kann sich darauf konzentrieren, die eigenen Grenzen immer wieder zu testen.Zur gastronomischen Erlebniswelt, die das Hotel Einstein mittlerweile schweizweit zu einer Adresse mit Ausstrahlung macht, zählt auch der spektakuläre Weinkeller samt Vinothek. Er besteht aus Sandstein aus dem Bordeaux, der sozusagen die Hülle bildet für eine begehbare Schatztruhe mit über 3100 ausgesuchten Positionen. «Vielleicht sind es mittlerweile auch einige mehr», sagt Loris Lenzo lachend. Der 31-jährige Restaurantleiter und Wine Director betreut und kuratiert die besondere Sammlung; das Hauptaugenmerk liegt auf exklusiven Raritäten aus dem Bordeaux und dem Burgund, edlem Champagner und einer beachtenswerten Anzahl an Schweizer Weinen von Weltformat. Von der fünften Etage, dem Standort des Gourmetrestaurants, über das Bistro im Erdgeschoss des Kongressanbaus bis zum Keller setzt sich eine kleine Welt zusammen, in der es Sebastian Zier gelungen ist, seine Vorstellungen von Qualität, Geschmack und Ästhetik zu verwirklichen. Und sehr oft ist das schlicht «brutal stark».