Text: Max Fischer I Fotos: Marcus Gyger
Die Liebe der Benediktiner. Sie galt den Mönchen in der Klosterstadt zuerst dem lieben Gott. Dicht gefolgt von Gaumen und Magen. Das wirkt bis heute nach: In fast keiner Schweizer Stadt gibt es mehr Restaurants auf einen Einwohner. Und es wirken erst noch zwei Top-Cracks am Herd, die alles andere als Klosterschüler sind: Sebastian Zier vom «Einstein» (18 GaultMillau-Punkte) und Agron Llehsi vom «Jägerhof» (17 GaultMillau-Punkte) zaubern in der Ostschweizer Metropole auf höchstem Niveau. Ein Brillat-Savarin mit Gurke, Ananas und einem Sauerampfer-Jus aus der «Einstein»-Küche schmeckt himmlisch – genauso wie die göttlichen «Jägerhof»-Klassiker Bouillabaisse und Wienerschnitzel. Grosses Bild oben: Sebastian Zier («Einstein») und Agron Lleshi («Jägerhof»).
Sie reissen die anderen mit! Zier und Lleshi verteidigen nicht einfach ihr Revier. Im Gegenteil: Die beiden Ausnahmekönner am Herd reissen andere mit. «Wir haben einige kulinarische Hotspots», freut sich Zier. Das sei sehr gut für die Region, Konkurrenz belebe und sporne an. Von Neid und Missgunst will er nichts wissen. «Wir vermitteln einander auch Gäste», sagt er. Wichtig ist für den Spitzenkoch der Kontakt mit Berufskollegen.
Spass haben – und Spass machen. Mit seinen Gerichten will Zier seinen Gästen ein freudiges Geschmackserlebnis bieten. Beim Zubereiten will er selber aber auch seinen Spass haben. Mehr noch: «Wir müssen auch unseren Mitarbeitenden Spass vermitteln», ist er überzeugt. Viel Spass und harte Arbeit. Mit dieser Einstellung will Zier dem Fachkräftemangel entgegenwirken. «Der hat sich durch die Corona-Pandemie noch verstärkt.» Die jetzige Generation müsse zudem ausbaden, was vor zehn, zwanzig Jahren in der Gastronomie verschlafen worden sei. Die Arbeit sie hart mit 12, 13 oder 14 Stunden pro Tag. «Da kann man nicht, wie noch Jahren, die Leute ständig runtermachen.» In seiner Küche gilt: Freude herrscht! Regelmässig unternimmt er mit seinem Team auch Ausflüge, mal in die Badi, mal auf ein Weingut. «Als ich noch im «La Mer» auf Sylt arbeitete, waren wir auch eine verschworene Truppe, wenn wir ausgingen.» Das schweisse zusammen, das führe zu bleibenden Kontakten.
Menschlich-Zwischenmenschliches. Auch Agron Lleshi vom «Jägerhof» wünscht, dass alle mitdenken und mitreden. «Wir sind ein Team, es ist wichtig, dass jeder Ideen einbringt.» Lleshi hat schon seine Lehre im «Jägerhof» gemacht, jetzt bildet er zwei Personen in der Küche und eine Dritte im Service aus. Für ihn ist es sehr wichtig, den jungen Leuten das Handwerk und die Kenntnisse über die Produkte zu vermitteln.» Dritte im Bunde der St. Galler Top-Cracks ist Bernadette Lisibach von der «Neuen Blumenau» (17 GaultMillau-Punkte). Ihr Genusstempel liegt 15 Autominuten ausserhalb des Stadtzentrums – da sind die Personalsorgen noch etwas grösser. Auch sie sagt: «Zuerst schaue ich einer Bewerberin oder einem Bewerber in die Augen.“ Das Menschlich-Zwischenmenschliche sei zentral: «Alles andere kann man lernen.»
Kein Verständnis. Den Personalmangel in der Gastronomie kann «Lisi» nicht nachvollziehen. «Trotz unregelmässiger Arbeitszeiten und langer Tage würde ich als junge Frau sofort wieder einsteigen – man kann seine Kreativität immer wieder von Neuem ausleben, hat ständig mit spannenden Gästen zu tun und kann jeden Tag viele Menschen glücklich machen.» Das sei doch fantastisch!
In den Startlöchern. Hinter den Top-Drei stossen andere nach. Ambitionierte wie Adrian Nessenbach und Ehefrau Svenja Bellmann von der Quartierbeiz «Helvetia» (15 GaultMillau-Punkte). Alle Gerichte gibt’s zum Teilen, alles ist regional und stammt vom St. Galler Bauernmarkt. Das Fleisch kommt von Bruder Kay, der in Lengwil TG den Demeterbetrieb Lauftenhof mit Turopolje-Säule und Weiderindern führt. Auf dem Teller kommt der «warmä Gnuss» überzeugend daher: Kohlrabi mit Kürbiskern, Miso und Ziegenfrischkäse oder Rinds-Picanha mit Rauch-Paprika und Gurke, «däzue» Risotto, Ricotta-Gnocchi mit Frühlingslauch und Salbei. Als «süessi Versuechig» – von Ehefrau Svenja – eine Mirabelle mit weisser Schokolade und Kapuzinerkresse oder Holunder mit Griess und Holunderblüte.
Konsequent erfolgreich. Markus Schenk kocht im «Corso» (15 GaultMillau-Punkte) nur mit Zutaten aus dem Alpenraum – also aus der Schweiz, aus Österreich, dem Südtirol und dem Piemont. Eine Symphonie aus Bulgur, Kernser Edelpilze und Estragon bringt er mit viel Raffinesse auf den Teller. Und Martin Benninger und sein Souschef Robert Partoll arbeiten im «Segreto» (16 GaultMillau-Punkte) Hand in Hand – auf höchstem Niveau. Ihre leichte, italienisch inspirierte Küche überzeugt seit Jahren.
Erststockbeizen. Eine St. Galler Besonderheit. Wunderschöne holzgetäferte Restaurants im ersten Stock von historischen Fachwerkshäusern. Im Mittelalter war der Baugrund der Stadt feucht und sumpfig, die Häuser mussten oft auf Holzpfählen errichtet werden. Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss waren dunkel, im ersten Stock drang mehr Licht in die Zimmer. Deshalb wurden ebenerdig Gewerbebetriebe eingerichtet und die ersten Schenken nach oben verlegt. Diese «Beizchen» strahlen nicht nur viel Charme und Chic aus – sie überzeugen auch kulinarisch.
In Schieflage. Inbegriff für ein Erststockrestaurant ist das 1484 erbaute «Zum Goldenen Schäfli» (14 GaultMillau-Punkte). Bekannt für seinen schrägen Boden, der nicht dem zu üppigen Alkoholkonsum geschuldet ist. Chef Astrit Memetja legt Wert auf top Produkte und Mara Zwatz kümmert sich ums Gästewohl. Gemütlicher geht nicht! Das Neubädli, offiziell «Genussmanufaktur Neubad» (14 GaultMillau-Punkte), ist zwar eine traditionelle Weinstube – doch in der Küche ist trendiges Sharing angesagt. Zwischen Vor- und Hauptspeisen gibt es keinen Unterschied. Nach Lust und Laune wählt der Gast einen Genussteller mit unterschiedlich grossen Portionen. Gebratener Pulpo mit Tomate, Pfirsich, geröstetem Kokos-Blumenkohl, Pinienkernen etwa oder Kürbis-Allerlei mit Kokos-Couscous, Curryvinaigrette und Koriander.
Eine Zweistockbeiz. Auf 500 Jahre blickt das Erststockrestaurant «Gaststuben zum Schlössli» (14 GaultMillau-Punkte). So richtig dem Herbst entsprechend macht ein Rehrücken mit Vogelbeeren, Quarkspätzli und Herbstgemüse gluschtig. Ein Juwel ist die «Alte Post» (14 GaultMillau-Punkte). Hier gibt’s die kleinste Küche mit dem grossartig(st)en Weinkeller. Urig ist die Atmosphäre in der gleichaltrigen Weinstube «Zum Bäumli» (überzeugende Kutteln an Weissweinsauce). Und ganz speziell: der «Schwarze Adler» – die einzige Zweistockbeiz. Eine kleine Oase mit Innengarten und Restaurant auf zwei Etagen.
Fremde Fötzel. Ausgerechnet neben der früher unabhängigen Abtei mit der prächtigen Kathedrale bieten Oliver Wessiak und Ehefrau Astrid Lorünser «eine Prise Österreich in St. Gallen» an. Nichts zu tadeln gibt’s an Wiener Schnitzel & Co. – die österreichischen Spezialitäten überzeugen im Restaurant «Am Gallusplatz» (13 GaultMillau-Punkte). Der Chef kann aber auch ganz anders: Short Rib, ganz langsam geschmort, mit Kartoffelstampf, kräftiger Schmorsauce und glacierte Rüebli, Pancetta und Pfifferlinge erfreuen Auge und Magen.
Vegan & Vegetarisch. Im «Candela» (12 GaultMillau-Punkte) gibt’s vorzügliche Sashimi vom Lachs und Thunfisch an Ponzusauce und Wasabi-Mayonnaise mit Apfel-Linsen-Salat und eingelegter Ingwer. Doch fast gleich viel Platz nehmen die vegetarischen und veganen Kreationen ein. Zum Beispiel Steinpilz-Ravioli an Proseccosauce mit Blattspinat, Schnittlauchöl und Parmesan. Oder mariniertes Schweizer Bio-Tofu aus Amriswil an roter Thaicurrysauce dazu Jasminreis, Pak choi, Cocobohnen, Kokoschips und Koriander.
Der Exote. Seit 36 Jahren ist Sam Owadia nicht mehr aus dem Restaurant «Splügen» wegzudenken. Der Wirt mit israelischen Wurzeln vom Pic-o-Pello-Platz am Fuss der Mühleggschlucht im Klosterquartier ist eine Institution. Hier geniessen Politiker, Hausfrauen und Lehrer neben Journalisten und Bundesrichtern orientalische Häppchen. Speziell: Sabich, der vegetarische Hit aus Tel Aviv. Serviert in einem Wrap, gefüllt mit grillierten Auberginen, Hummus, Tahina, Kartoffeln, Ei und einem Tomaten-Gurken-Salat.
Unverwüstlich. Vor über zwanzig, dreissig Jahren pilgerten alle, die in St. Gallen einen Geburtstag oder einen Hochzeitstag zu feiern hatten, zu Köbi Nett. Jetzt ist der Altmeister 75. Zum Kochen ist jetzt noch das Malen hinzugekommen. Und immer noch ist er mit Sohn Oliver und «Netts Schützengarten» (14 GaultMillau-Punkte) in St. Gallen eine Institution. Klassiker wie das Entrecote Cafe de Paris, Zürcher Geschnetzteltes oder Kalbskotelettes bleiben Renner. Wie auch das «Gugusli» zum Dessert. Eine Sauerrahmglace mit Olivenöl und Pfeffer.
Die berühmteste Ostschweizerin. Noch bekannter als Köbi Nett und die Erststockbeizen ist nur die St. Galler Bratwurst. Wenn die Bevölkerung am Samstag in der Altstadt für die kommende Woche einkauft, sind die St. Galler Bratwurst, ein Bürli und ein Schützengarten Klosterbräu von der ältesten Brauerei der Schweiz ein absolutes Muss. Die Wurst natürlich ohne Senf. «Der überdeckt den feinen muskatschaligen Geschmack der Bratwurst», sagt Urs Bolliger von der Spartenorganisation St. Galler Bratwurst.
1438. Die Metzgerzunft St. Gallen erwähnte vor fast 600 Jahren in ihren Statuten zum ersten Mal die Bratwurst. Heute stellen 38 Produzenten die berühmteste Ostschweizerin her. Seit 2008 ist sie mit GGA/IPG-Anerkennung sogar herkunftsgeschützt. Jährlich werden 4000 Tonnen Bratwürste produziert – das entspricht 30 Millionen Stück.