Text: David Schnapp | Fotos: Olivia Pulver

Paul Stradner, wer sind Sie als Koch?
Ich bin gebürtiger Österreicher, habe lange in der «Schwarzwaldstube» und im Brenner’s Park Hotel gearbeitet, war aber auch einige Jahre bei Jean-George Klein in Arnsbourg, und meine Küche widerspiegelt heute diesen Werdegang.

Wissen Sie noch, warum Sie ursprünglich Koch geworden sind?
Ich bin in einem kleinen Ort in der Steiermark aufgewachsen, teilweise sassen neun Leute zu Hause am Esstisch. Meine Mutter und meine Oma haben sieben Tage die Woche gekocht und mit zehn, elf hat mich das angefangen zu interessieren, und ich habe angefangen herumzuköcheln. Mit zwölf, dreizehn habe ich dann das Sonntagsessen alleine gekocht – mit etwas Hilfe von der Oma. 

Was gab’s da?
Das ist unvergessen, weil es erst um 15 Uhr Mittagessen gab (lacht). Es gab gebratenes Schweinefilet mit Österkron-Kruste – dem österreichischen Gorgonzola. Das Timing hat überhaupt nicht funktioniert, immerhin gab es die Suppe schon um halb eins. 

Trotzdem wurde daraus eine Karriere…
Eigentlich wollte ich immer mit Leuten zu tun haben und Restaurantfachmann werden. In Österreich kann man aber eine Doppellehre über vier Jahre machen, und das war die Voraussetzung in dem Betrieb, wo ich unbedingt hinwollte. Begonnen habe ich im Service, aber als ich nach einigen Monaten zum ersten Mal in die Küche gewechselt bin, war schnell klar, dass das mein Ding ist. 

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

«Ich wollte immer mit Leuten zu tun haben»: Paul Stradner.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

Stradner ist seit 2017 Küchenchef in der Villa René Lalique in Wingen-sur-Moder.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

«So viel zu entdecken»: Stradner im Gespräch.

Was hat die Anziehungskraft der Küche für Sie ausgemacht?
Obwohl wir zu Hause immer sehr gut gegessen haben – wir hatten vom eigenen Bauernhof Schweine, Rinder, Hühner und einen Gemüsegarten –, habe ich plötzlich eine Vielfalt an Zubereitungsmöglichkeiten und Varianten entdeckt, die mich fasziniert hat. Ich wollte unbedingt mehr darüber wissen und lernen. Ich bin ja davor auch nirgends hingekommen, meine Eltern waren 365 Tage im Jahr zu Hause auf dem Hof. 

Sie haben sich die Welt über das Essen erschlossen?
Ja, genau. Für mich war deshalb auch klar, dass ich nach der Lehre wegwill –Deutschland, Frankreich, USA/Kanada war der Plan. Dann habe ich in der Hauptküche der «Traube Tonbach» angefangen, wo von der Schwarzwurst bis zum Hummer alles zubereitet wurde. Bald war mir klar, dass es hier noch so viel zu entdecken gibt, dass ich nicht nach einem halben Jahr wieder gehen konnte. Schliesslich kam ich zu Harald Wohlfahrt, habe noch mehr entdeckt und bin sieben Jahre geblieben. 

Mir sind, Sie eingeschlossen, drei hervorragende Köche bekannt, die auf einem Bauernhof aufgewachsen sind. Allesamt gute Leute, die viel und harte Arbeit nicht abschreckt…
Mit sechs oder sieben Jahren hatte ich auf dem Hof meine täglichen festen Aufgaben, und je älter ich wurde, desto mehr und schwieriger wurden die Aufgaben.

Was mussten Sie da machen?
Meine erste Aufgabe war die Bedienung der Silo-Fräse, mit der man den vergorenen Mais gehäckselt hat. Der Mais wurde in einem Raum neben dem Rinderstall in Körbe gefüllt, aber das Gerät war alt und hat ziemlich gestreut. Ich musste also jenes Drittel, das danebenging zurück in die Körbe schaufeln. Und die Fräse hat man auch im ganzen Dorf gehört, sobald sie lief. Wenn sie mein Vater um 18 Uhr angemacht hatte, wusste ich, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen. 

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

Bijoux im Elsass: Die Villa René Lalique (rechts) ist ein Fünf-Sterne-Hotel, ein Restaurant (18 Punkte, zwei Sterne) und ein Weinkeller mit 2500 Positionen.

Wie hat Sie dieses Leben geprägt?
Es hat mich irgendwie stolz gemacht. Ich habe viel Zeit auf den beiden Tennisplätzen im Dorf verbracht. Aber wenn um 18 Uhr die Silo-Fräse anging, bin ich nach Hause, weil die Arbeit rief. Ich hatte den Eindruck, dass die Erwachsenen auf dem Platz das gut fanden.

Haben Sie nie rebelliert?
Natürlich hat das manchmal genervt, aber es stand trotzdem nie zur Diskussion, meine Aufgabe nicht zu erfüllen. 

Was ist Ihnen wichtig beim Kochen?
Alles fängt mit Top-Produkten an, und um diese auf die nächsthöhere Stufe zu hebe, muss man konzentriert arbeiten. Ich mag es nicht, wenn herumgeschrien wird, aber es darf ein positiver Druck aufgebaut werden, wenn ein grosses Team für 40 Gäste an der Arbeit ist. 

Wurde in Ihrer Ausbildung noch rumgeschrien?
Ich bin jetzt 41 Jahre alt und habe schon noch das eine oder andere miterlebt. Aber meine Erfahrung ist auch, dass laute Küchenchefs nur noch mehr Fehler verursachen. Wenn etwas schiefläuft, soll man das klar ansprechen, aber zu hohe Lautstärke bringt überhaupt nichts, da werden die Leute nur nervös. Bei uns geht es ja um was, und Nervosität führt nicht zum Erfolg.

Worum geht es Ihnen, was bedeutet für Sie Erfolg beim Kochen?
Unser Restaurant ist wirklich weit weg von allem, Strasbourg ist eine Stunde entfernt. Man muss sich ins Auto setzen und hierherfahren wollen. Trotzdem schaffen wir es, durchschnittlich 350 Couverts pro Woche zu machen, und viele Gäste buchen beim Hinausgehen ihren Tisch für den nächsten Besuch. Darum geht es, und das macht mir wirklich Freude.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

«350 Couverts pro Woche»: das Restaurant der Villa René Lalique.

Sind Sie heute ein besserer Koch als noch vor fünf Jahren, oder sind Sie bloss erfolgreicher?
Es wäre ja schlimm, wenn fünf Jahre einfach so verstreichen, ohne etwas dazuzulernen. Als ich 2011 erstmals Küchenchef wurde, ging es darum, etwas Eigenes zu kreieren, um nicht beispielsweise in die Schublade «Wohlfahrt» oder «Klein» gesteckt wird. Und dann muss ich natürlich lernen, ein Team zu führen.

Was ist schwieriger?
(Denkt lange nach.) Beides kann anspruchsvoll sein, beides kann aber auch super sein. Es gibt Phasen, da hat man eine Idee, setzt sie um, und es gibt ein gutes Gericht. Manchmal steht aber auch ein Kartenwechsel an, und es fehlt an Inspiration – dann wird es schwierig. 

Und wie ist es beim Führen von Leuten?
Bei 15 Leuten in der Küche hat man es mit 15 verschiedenen Charakteren zu tun. Es braucht ein Gespür dafür, wie die zusammengehalten werden können.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

Glaskunst seit 1921: Objekt aus der Lalique-Werkstatt.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

Eleganz im Jugendstil: Tisch im Restaurant.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

Porzellan und Glas: Platzteller aus den Lalique-Ateliers.

Läuft Musik bei Ihnen in der Küche?
Das ist unterschiedlich, je nach Situation.

Wer macht die Playlist, sind Sie das?
Nee, das machen die Jungs. Ich bin da offen, nur die Lautstärke bestimme ich (lacht).

Sie kochen seit über 20 Jahren, wie sehr hat sich die Arbeit verändert?
Vor zwanzig Jahren brauchte es ein Top-Produkt, gutes Handwerk, guten Geschmack und konstante Leistung. Heute braucht es ein Konzept oder das so genannte Storytelling, um sich von den vielen guten Restaurants, die es sonst noch gibt, abzuheben. 

Hat sich die Hierarchie der Produkte verändert, bekommt beispielsweise Gemüse heute einen anderen Platz?
Zu meinen Anfangszeiten stand auf einem Menü ein Knaller nach dem anderen: Kaviar, Hummer, Steinbutt, Top-Rindfleisch. Heute geht es nicht mehr nur um Luxusprodukte, auch wenn man die natürlich an einem Ort wie unserem hier erwarten darf. Aber ich arbeite viel mit Gemüse. Am Anfang des Menüs gibt es immer eine vegetarische Deklination, und auch im grossen Menü sind immer mehrere vegetarische Gänge. Das wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen.

Welche Führungstechniken haben sich bei Ihnen bewährt?
Das Wichtigste ist, einen klaren Weg vorzugeben. Dann braucht es einen Blick dafür, wer was leisten kann. Dem einen ist vielleicht langweilig, der andere kann gerade keine zusätzliche Aufgabe bewältigen, aber jeder soll eine Herausforderung haben. Je besser ich selbst arbeite, desto länger kann ich meine Köche halten, und das gibt eine Stabilität, die das Restaurant zusammenhält.

Le Restaurant - Villa René Lalique, Frankreich - Küchenchef Paul Stradner - 30. Mai 2022 - Copyright Olivia Pulver

«Die Lautstärke bestimme ich»: Paul Stradner in seiner Küche.

Was ist anspruchsvoller?
Wenn ich nicht am Produkt vorbeiarbeite, sollte ich als Koch aus Kaviar oder Rehrücken etwas Leckeres machen können. Die grössere Bestätigung ist für mich, wenn es mir gelingt, mit einer Karottenvariation die Gäste zu begeistern. Trotzdem würde ich nicht auf die Idee kommen, ein vegetarisches Restaurant zu machen. Es geht mir um die Balance. Ich esse gerne Hummer oder Kaviar, aber ich will zeigen, dass Kochen mehr ist als das.

Ist das Publikum in Frankreich eigentlich anders, anspruchsvoller?
Essen ist hier auf jeden Fall ein grösseres Thema als etwa in Deutschland. Ich weiss nicht, ob die Gäste anders sind, aber ihre Bereitschaft, für Essen Geld auszugeben, ist auf jeden Fall grösser. 

Wie ist es als Österreicher mit deutscher Vergangenheit Küchenchef in Frankreich zu sein?
Am Anfang hatte ich Bedenken, ob ich hier angenommen werde. Mittlerweile hat sich das gelegt. Wenn ich den Leuten im Restaurant eine schöne Zeit bescheren kann, ist es ihnen egal, wenn meine Grammatik nicht ganz einwandfrei ist. 

Gibt es etwas, was Sie noch kochen möchte, was Ihnen noch nicht gelungen ist?
Da gibt es Einiges (lacht). Pâté en croûte zum Beispiel ist etwas, was ich schon in Perfektion gegessen habe, was mir selbst aber noch nicht gelungen ist.

Aber Sie versuchen es immer wieder?
Ja, ja, meine Ergebnisse werden besser, aber entweder stimmt der Garpunkt nicht ganz, das Verhältnis von Fett und Fleisch stimmt nicht, der Teig ist nicht optimal, oder beim Anschneiden sieht es nicht schön genug aus. Ich würde Pastete nicht auf die Speisekarte setzen, aber ein-, zweimal im Jahr packt es mich, dann versuche ich es wieder. Das ist aber eine Spielerei. Wenn es darum ginge, das im Restaurant zu servieren, müsste spätestens der fünfzehnte Versuch erfolgreich sein. 

Macht Sie Misserfolg dieser Art demütig?
Am meisten Demut empfinde ich vor meinen Kritikern zu Hause. Meine Frau und meine Kinder sind sehr ehrlich mit mir. Im Restaurant mache ich ja nicht vom Anfang bis zum Ende alles selber. Und wenn es mich dann zu Hause packt, und ich ein Gericht nach meinen Vorstellungen gut hinkriege, ist die Redaktion vielleicht trotzdem, «das haben wir schon besser gegessen».

>> Die Lalique-Gespräche. Interviews mit Köchen, Sommeliers und Künstlern, die in den Schlössern und Villen des Basler Unternehmers Silvio Denz arbeiten. Fortsetzung folgt.

 

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