Text: Anita Lehmeier I Fotos: David Birri
STADT, LAND, BERG. Einen Graben zwischen Stadt und Land mag es geben hierzulande - aber sicher nicht zwischen Benedikt Voss und Carlos Navarro: Voss, der Bergler, und Navarro, der Städter, sind ein Herz und eine Seele und vollkommen einig, wenn es ums Kochen geht. Der Chef von Kräuterhotel Edelweiss auf Rigi Staffelhöhe (1550 m ü. M., 16 Punkte, ein Michelin-Stern im Gourmetrestaurant Regina Montium) und der Chef vom Restaurant Rechberg 1837 in Zürich (14 Punkte, 1 grüner Michelin-Stern) schwingen auf der gleichen Wellenlänge, was Rohstoffe und Zubereitung angeht: Sie pflegen eine hochstehende, nachhaltige Naturküche mit strikten ethischen Regeln. Diese erlauben nur Schweizer Produkte von heimischen Wiesen, Äckern und Ställen. Auf der Rigi ist die Regionalität gar noch kompromissloser: Alle Zutaten im Kräuterhotel stammen vom Berg oder drumherum. Zum Einsatz kommen alte Sorten mit Bio- und Demeter-Standard statt hipper Trendfood. Industrieller Anbau oder ebensolche Verarbeitung sind tabu. Man setzt auf Handwerk statt Hilfsmittel. Der Anspruch an Luxus: Tier-, Menschen- und Umweltwohl müssen garantiert sein. Bei all diesen Dogmen bleibt eins aber nie auf der Strecke: der Genuss. Und der Spass. Den haben die beiden Chefs offensichtlich in der Küche bei ihren Vierhand-Menüs, wie neulich auf der Rigi in Voss’ Himmelreich der Kräuter. Voss und Navarro Seite an Seite am Herd – das sieht aus wie kreative Spielerei zwischen Buddies. Und nicht wie Schwerarbeit, die so ein Zehngang-Menü zweifelsfrei erfordert.
SCHATZKAMMER IM KELLER. Anders als viele Chefs, die sich Regionalität und Nachhaltigkeit auf die Fahne und die Karte schreiben, ist Saisonalität kein Kernthema im Kräuterhotel. Hier herrscht nämlich das ganze Jahr Sommer und Erntezeit. Was im Garten (600 Pflanzen!) und auf den umliegenden Wiesen und Wäldern wächst, wird laufend geerntet und konserviert. Voss und sein Team pflegen sämtliche traditionellen Methoden der Haltbarmachung – vom Trocknen und Salzen übers Einlegen, Einkochen und Räuchern bis zum Destillieren und Fermentieren. Und hebeln damit die Zeit und die Vergänglichkeit elegant aus. Zahllose grosse Gläser im Felsenkeller - der Schatzkammer des Hauses - zeugen vom Bienenfleiss der kreativen Geschmacks-Konservatoren. Die getrockneten Kräuter, Blüten und Pilze hinter Glas im Entrée des Hotels sind wahre Augenweiden. Ihr dekorativer Charakter allerdings täuscht: «Unsere Kräuter sind die Hauptdarsteller auf den Tellern, nicht bloss Dekor», betont Voss. Jeder der zehn Gänge bestätigt diese Aussage aufs Feinste: Von Aronia bis Zitrone (letzten Herbst erhielt Voss elf Stück aus Weggis) entfalten im Vierhand-Menü allerlei Beeren, Kräuter, Gemüse und Früchte ihre sommerlichen Aromen.
DER GASTGEBER IST DER GÄRTNER. Das meiste davon stammt aus eigenem Garten und den Gewächshäusern - natürlich wird alles vom Samen über die Stecklinge inhouse aufgezogen. Es ist das Reich von Gastgeber Gregor Vörös. Seit 2008, als er und seine Frau Gabriela den Betrieb von Gabrielas Mutter übernahmen und total umkrempelten, ist die Aufzucht stetig gewachsen. In der ehemaligen Wellness-Anlage und rund ums Haus stehen Gewächshäuser und Brutkästen, quasi die Kinderstuben des Grünzeugs, das dann später bei Küchenchef Voss landet. Es ist aber nicht Vörös allein, der sich um die Pflanzen kümmert. Jeder und jede im Küchen- und im Service-Team ist an einem der fünf Arbeitstage im Garten eingeteilt. So wissen alle haargenau, was auf den Tellern landet, und können den Gästen Auskunft darüber geben. «Und so ein Tag im Grünen wirkt ausserdem wie Kurzferien», meint der Chef. Auch dieses Teamwork ist Teil der Philosophie des Hauses, die der Natur und ihren Gaben mit jedem Handgriff huldigt. Kein Wunder, kennt man im Kräuterhotel keine Personalprobleme. «Wir haben mehr Anfragen, als dass wir Leute einstellen können», sagt Vörös voller Stolz. Dass er und seine Frau anfangs als die «Hippies und Spinner vom Berg» scheel angeschaut wurden, kann er heute mit einem Lächeln abtun. Der Erfolg und der Zeitgeist haben ihnen recht gegeben.
HAGEBUTTE UND VOGELBEERE ZUM KÄSE. Wie ein Waldspaziergang mutet das Zweierlei von der Rehbrust an (als Schnitte und als Chips), mit Tannenspitzen-Béchamel, Igelstachelbart, fermentiertem Kuhmaul-Salat und Lactarius-Deliziosus-Crème, beides Pilze. Aus dem gleichen Stall aus Rheingau, in dem einst die Kuh Belinda alt werden durfte, kommt die Sauermilch für den Käsegang, zusammen mit 6-jährigem gehobeltem Rigi-Käse, Hagebutten-Purée, kretischem Oregano, gerösteten Hanfsamen, Knäckebrot und Kompott aus Vogelbeere – letztere entgegen dem Volksglauben übrigens ungiftig. Der Tipp des Kellners, am besten schaufle man von allem auf den Löffel, ist hilfreich: Der vielschichtige Geschmack explodiert geradezu am Gaumen. Als Pré-Dessert gibt es einen dekonstruierten Schlorzifladen mit Aronia-Kompott, Meringue, Mürbteig und Anis-Ysop. Ein letzter Höhepunkt: das Glacé aus Pumpernickel mit Linsen-Vermicelles, grillierter und pulverisierter Quitte, Sonnenblumenkern-Krokant, Zimtbasilikum, aufgegossen mit gerauchtem Wildquitten-Saft. Wie alles von einmalig vielschichtigem Aroma-Mix, gekonnt in Harmonie gebracht von vier Händen.
DAS DAZU IN FLASCHEN. Natürlich zeugt auch die Weinkarte vom ausgesuchten Geschmack, der im Haus den Ton angibt. Bio- und Demeter-Betriebe wie Anne-Claire Schott, Marie-Thérèse Chappaz, Christian Zündel, Domaine Henri Cruchon und Marco Casanova liefern ihre Spezialitäten auf die Rigi – und sind bei Wine & Dine-Abenden vor Ort. Auch das alkoholfreie Angebot ist beeindruckend, Kombucha ist da der Star. Auch Coci gibt’s, natürlich hausgemachtes, es heisst «Rigi Cola». Wie bei der Zuckerplörre aus Amerika sind die Zutaten geheim, ausser der französischen Eberraute, die den Hauptbestandteil ausmacht. Spirituosen stammen vom berühmten Haldihof am Fuss der Rigi, Tees a gogo von noch näher – aus dem Garten. Am Schluss kommt die einzige Inkonsequenz des Hauses: der Kaffee. «Darauf können und wollen wir nicht verzichten», gesteht Voss. Dieser stamme aus Fair-Trade-Anbau und wird sorgfältig in Gersau von Patrik Hosennen geröstet.