Text: David Schnapp I Fotos: Thomas Buchwalder

Patron. Und Familienvater. In einem Waldstück zwischen friedlich grasenden Kühen liegt gelb-braun-buntes Herbstlaub, die Sonne kämpft noch gegen letzte Nebelkonzentrationen an, die als Erinnerung an eine regenreiche Nacht hängen geblieben sind. Familie Carcenat geniesst einen Moment Gemeinsamkeit, der eineinhalbjährige Gaspar gaukelt noch etwas unsicher durchs Gehölz, fällt hin, wird von Mutter Sabine wieder aufgerichtet und rettet sich in die stabilisierenden Arme von Vater Benoît, während die vierjährige Agathe fröhlich plappert. Willkommen in Rougemont in einer bedrückend schönen Landschaft am Röstigraben, willkommen bei den sympathischen Carcenats, willkommen bei GaultMillaus Koch des Jahres 2023! Der Franzose lebt seit 20 Jahren in der Schweiz. Seine Frau Sabine Carcenat ist die im nahen Château-d’Œx aufgewachsene. Hat die renommierte Hotelfachschule EHL in Lausanne absolviert, ist zuständig für das Management des kleinen Hotels Valrose und für die 30 Angestellten. Grosses Bild oben rechts: «Fondue in der Birne» mit gepickeltem Gruyère, Käsefond, Nusscreme und Silberzwiebeln.

Benoit Carcenat, Restaurant Valrose 2022

Ein Franzose im Wald: Oberhalb von Rougemont sammelt Benoît Carcenat Moose und Sauerklee.

Links Fine Dining, rechts eine gemütliche Beiz. Im vergangenen Jahr haben Sabine und Benoît Carcenat das Haus übernommen, und schwenkt man nach der Eingangstür nach rechts, gibt es im sogenannten Café Hamburger oder gebratenen Seeteufel zum Lunch. Abends rühren hier die Söhne und Töchter aus gutem Hause, die in Gstaad und auf der halben Welt zu Hause sind, im Fondue, morgens sitzen an dem von innen erleuchteten Bartresen Handwerker und Dorfbewohner beim Kaffee. Geht er nach links, steht der Gast in dem mit zurückhaltender Eleganz eingerichteten kulinarischen Herzstück des Hauses. Im «La Table du Valrose» hat es der 44-jährige Benoît Carcenat in kürzester Zeit geschafft, einen eigenständigen Küchenstil zu etablieren, der – und das ist ein Qualitätsmerkmal – nur schwer in eine Stilschublade zu versorgen ist. Wir kommen darauf zurück.

Benoit Carcenat, Restaurant Valrose 2022: Rotbarben-Filet vom heissen Stein mit Grapefruit, Tomaten und frittierten Schuppen

Perfektes Timing: Rotbarbe vom heissen Stein mit Grapefruit, Tomaten und frittierten Schuppen.

Benoit Carcenat, Restaurant Valrose 2022

«Auch das Einfache kann man sehr gut machen»: Koch des Jahres Carcenat.

Benoit Carcenat, Restaurant Valrose 2022: Frittierte Langoustine mit Krustentieröl, Langoustinenjus, Kakaoöl, Kakao-Gel, Artischockenpüree, Artischockensalat, japanischer Buchweizenknusper, hausgemachte Buchweizensprossen

Ein Küchenstil in Entwicklung: frittierte Langoustine mit Kakao-Gel, Artischocken und Buchweizen.

Drei Generationen, drei Köche. Ob Burger mit Zwiebelmarmelade auf der rechten oder vor dem Gast auf einem exakt 150 Grad heissen Stein gebratenen Rotbarbenfilet auf der linken Seite – für Carcenat basiert jede Art von Küche auf einem scheinbar simplen Grundsatz: «Auch das Einfache kann man sehr gut machen. Das ist, was ich am Kochen so liebe.» Selbstverständlich wird der «Koch des Jahres» nicht für die Einfachheit eines Sandwiches ausgezeichnet. Der Vergleich zeigt vielmehr eine bedingungslose Hingabe zum Beruf des Kochs, die grosse Küchenchefs auszeichnet. «Koch zu werden, war für mich eine Selbstverständlichkeit. Meine Grossmutter und mein Vater waren Köche, in unserer Familie wurde stets darauf geachtet, gut zu essen», sagt der gebürtige Franzose, der in Périgueux im Südwesten der Republik aufgewachsen ist und seit rund 20 Jahren in der Schweiz lebt. Und während sich französische Kollegen gern auf die historischen Errungenschaften der Küche ihres Heimatlands zurückziehen, pflegt Benoît Carcenat einen eklektischen Stil: Mit der unstillbaren Neugier des Entdeckers geht er in die Natur und in die Welt hinaus und sucht nach Produkten, Ideen, Techniken, die er in seine Küche integrieren kann. Oxalis, Pimpernelle oder Weisse Fetthenne etwa sammelt der Küchenchef gleich selbst in der Natur um sein Restaurant.

Benoit Carcenat, Restaurant Valrose 2022: Sous-Chef Victor Mories Chef de Patisserie Josselin Jacquet

«Hervorragender Leader»: Carcenat mit Sous-Chef Victor Moriez und Chef de Patisserie Josselin Jacquet

Benoit II. Gestählt in Crissier. «Mich interessiert alles, was man essen kann – und wie man es zubereitet», antwortet er auf die Frage nach seiner Idee vom Kochen. Nach der Hotelfachschule in Bordeaux begann Carcenat mit der praktischen Arbeit, von 2006 bis 2016 war er erst als Commis de Cuisine und zuletzt als Souschef von 19-Punkte-Koch Benoît Violier (1971–2016) im «Hôtel de Ville» in Crissier, dem ältesten Spitzenrestaurant der Schweiz, engagiert. Carcenat bekam den Zusatznamen «Benoît II». Als Nachfolger des durch eine tragische Selbsttötung aus dem Leben gerissenen Violier stand er zusammen mit der heutigen Nummer 1 in Crissier, Franck Giovannini, in der ersten Reihe.

 

Ein Jahr lang auf Weltreise. «Ich wollte aber etwas anderes machen und ging für ein Jahr auf Weltreise», erzählt Benoît Carcenat, bevor er für dreieinhalb Jahren die weltweit neun Restaurants der Gruppe des Glion Institut de Hautes Études führte, einer international angesehenen Hotelfachschule. Carcenats heutige Arbeit im neu mit 18 Punkten ausgezeichneten Restaurant La Table du Valrose kann als Konzentrat der Arbeit, der Erfahrungen und Entdeckungen vieler Jahre gesehen werden. Es ist die kulinarische Essenz eines mit anscheinend unstillbarer Neugier ausgestatteten Küchenhandwerkers.
 

Bonito: Getrocknet, geräuchert, fermentiert. In einem seiner letzten Menüs präsentierte der «Koch des Jahres» den verblüfften Gästen etwa einen ganzen Bonito, eine Makrelenart, die in Japan traditionell über mehrere Wochen gekocht, getrocknet, geräuchert, fermentiert und dann zu feinen Flocken gehobelt wird (Katsuobushi). Weil er wissen wollte, wie das geht, stellte er aus dem Fisch eine Art Trockenfleisch her, das am Tisch in feine Scheiben geschnitten wurde – vergleichbar mit spanischem Rohschinken. «Was mich an meinem Beruf fasziniert, ist die Kunst des Essens und des Kochens – ob hier in Rougemont, in Paris, in Tokio, in Sydney oder in Buenos Aires. Und dann fasziniert mich das Streben nach Perfektion. Ich möchte das, was ich für gut halte, immer weitertreiben.»

 

Alle sechs Wochen ein neues Menü. Das Resultat ist eine Küche, in der Technik, Geschmack, Kreativität und Timing in selten gesehener Perfektion vereint werden. Carcenats Gerichte verlangen seinen Köchen viel ab. «Er ist ein fordernder, aber hervorragender Leader», sagt etwa Souschef Victor Moriez. Aber auch für die jungen Kellnerinnen und Kellner ist der Vorwärtsdrang des Chefs anspruchsvoll. Alle sechs Wochen wird das Menü mit neun Gängen komplett gewechselt. «Das ist ein guter Rhythmus, damit verhindern wir, dass im Serviceteam Routine aufkommt», findet der erst 29-jährige Mathieu Quetglas, der als «Sommelier des Jahres» in seinem Gebiet selbst zur Elite zählt. Die Serviceleute müssen zudem jedes Gericht probieren und über Komponenten und Zubereitung Bescheid wissen. «Danach mache ich mit ihnen einen Test mit rund 20 Fragen zu den einzelnen Gängen», sagt Sommelier Quetglas. Ein ausufernder Entdecker- und Erfindergeist, dazu die Freude am Essen und am Handwerk – all das und einiges mehr zeichnet den Koch des Jahres 2023 aus.

 

>> www.valrose.ch