Text: David Schnapp

«Ist das ein Kochbuch?», lautet der leicht provokante wie letztlich auch rhetorische Titel des neuen, gedruckten Werks von Heston Blumenthal, der damit erstmals auch ein Buch auf Deutsch herausgibt. Natürlich ist der 368 Seiten umfassende Band mit dem prominenten, fast kahlen Schädel des Kochs auf dem Cover ein Kochbuch. Aber es ist auch mehr: Es ist eine Denkschule und bildet den einzigartigen, eigenständigen Zugang zum Abenteuer Küche ab, den sich der eigenwillige Brite in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat. Und dass eine Frage auf Titel steht, ist wie ein Leitmotiv der Arbeit Blumenthals, die darauf basiert, nichts als gegeben hinzunehmen, sondern eben alles in Frage zu stellen.

Erfolgreicher Autodidakt. Heston Blumenthal gehört zu den erfolgreichsten Autodidakten der internationalen Spitzenküche, seit er 1995 den damals 450 Jahre alten, heruntergekommenen Pub «The Tingers» im Dörfchen Bray an der Themse gekauft und in «The Fat Duck» umbenannt hat. Was als französisch inspiriertes Bistro begann, wurde Dank Blumenthals schier unstillbaren Neugier, was die Grundlagen, Prozesse und Möglichkeiten des Kochens angeht, zu einer festen Grösse. Nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern wie Harold McGee, dessen Standardwerk «On Food and Cooking» von 1984 die Grundlage der so genannten Molekularküche Anfang der 2000-er Jahre ist, entwickelte sich Blumenthal zu einem Küchenpionier. Zusammen mit dem «El Bulli» bei Barcelona strahlte «The Fat Duck» als international beachteter Leuchtstern der kochenden Avantgarde hell über der Welt der Gastronomie. Während Ferran Adriàs Wallfahrtsort längst Geschichte ist, sind verzeichnet das Reservationssystem in «The Fat Duck» mittags und abends ein ausverkauftes Haus. 2005 wurde es zum besten Restaurant der Welt auf der 50-best-Liste erhoben, seit 2004 gibt es drei Sterne im Guide Michelin.

The Fat Duck

Legendäres Restaurant: «The Fat Duck» im englischen Ort Bray an der Themse.

Dinner b y Heston Blumenthal

Historische britische Gerichte im Menü: «Dinner by Heston Blumenthal» in London.

Escoffier und die Physiker. Heston Blumenthal hat Methoden und Gerichte entwickelt, die wahlweise zum Küchenstandard oder zur Ikone wurden – wie die «Triple Cooked Chips», der in Lakritze pochierte Lachs, im Stickstoff gefrorene Cocktails oder die Speck-Eiscreme. Er hat sich mit der Frage, wie der perfekte Hamburger in jedem Detail aussehen muss, ebenso leidenschaftlich und ausdauernd beschäftigt, wie er sich auf die Suche nach historischen Rezepten Englands gemacht hat, die seither in modernisierter Variante im «Dinner by Heston Blumenthal» im Mandarin Oriental Hotel London serviert werden. In seiner Arbeit hat sich Blumenthal letztlich nicht auf Physiker oder andere Forscher berufen, sondern auf den grossen Chef Auguste Escoffier (1846–1935): «Kochen ist eine Wissenschaft und eine Kunst, und der Mann, der mit ganzem Herzen versucht, seine Mitmenschen dadurch zufrieden zu stellen, verdient Beachtung», lautet ein Zitat des Begründers der klassischen französischen Küche, wie wir sie heute kennen.

Erbsensandwich Heston Blumenthal

Very british: Erbsen-Schinken-Suppe als Sandwich.

Randensuppe Heston Blumenthal

Alltagsküche vom Starchef: Randensuppe nach Heston Blumenthal.

Fruchtgummis Heston Blumenthal

Quantenphysik als Fruchtgummi: süsse Gelées in verschiedenen Aromen.

Toast, Baguette oder Sauerteig? «Ist das ein Kochbuch?» ist nun gewissermassen die alltagstaugliche Variante der Gerichte eines vom Forscher- und Entdeckergeist getriebenen Kochs. Während das nur auf Englisch erhältliche «Heston at Home» noch eine eher konventionelle Sammlung von Rezepten war, ist das neue Buch mehr als das: Es geht nicht nur darum, gut zu kochen, sondern auch darum, ein Verständnis für Details, für Aromen, Zutaten, Texturen und Prozesse zu entwickeln. Heston Blumenthal fordert einen zum Experimentieren auf und dazu, das Kochen (und anderes mehr) aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das kann in der Küche ganz simpel sein: Wo dunkles Toastbrot für ein Chicken-Sandwich rezeptiert ist, könne man auch mit Baguette oder Sauerteigbrot arbeiten, statt Aprikosen sind auch Rosinen erlaubt. Hinweise zu Brattemperaturen oder der Frischeprüfung von Eiern sind nützliches praktisches Küchenwissen. Dazu kommt eine attraktive Mischung aus zugänglichen Fotos und anregenden Illustrationen, der das Werk auch visuell hervorhebt. 

Heston Blumenthal: Ist das ein Kochbuch?

«Abenteuer in der Küche»

Illustrationen: Dave McKean | Fotografie: Haarala Hamilton

AT Verlag

CHF 44.–

Ist das ein Kochbuch?

Endlose Möglichkeiten. Das Buch umfasst viele grossartige und einige sehr britische Rezepte: Brathuhn und unendliche knusprige Bratkartoffeln, eine Erbsen-Speck-Suppe als Sandwich, Salate und Suppen, aber auch einfache Grundlagen der Fermentation, natürlich die dreifach gegarten Pommes, der Yorkshire Pudding oder die unvermeidliche Tarte Tatin, die Heston Blumenthal schon sein ganzes Leben als Koch beschäftigt: In «The Fat Duck» hat er jahrelang damit experimentiert und festgestellt, dass dieses klassische Dessert, das nur aus vier Zutaten besteht – Zucker, Butter, Äpfel, Teig – endlose Möglichkeiten eröffnet. Für «Ist das ein Kochbuch?» scheint die Tarte Tatin geradezu ein symbolisches Gericht, indem es die Grundidee dieses Buchs gut zusammenfasst: Der Legende nach sei die Tarte durch einen Fehler der Schwestern Tatin bei der Vorbereitung eines Apfelkuchens entstanden. «Diese Geschichte erinnert in jedem Fall daran, dass es nicht immer nur eine ‹richtige› Möglichkeit gibt, und dass wir keine Angst davor haben sollten, Fehler zu machen. Gehen Sie einfach in die Küche und legen Sie los», heisst es bei Heston Blumenthal. Und das gilt ja nicht nur für einen Apfelkuchen, sondern ist vielmehr ein gutes Rezept für die meisten Herausforderungen, vor die wir täglich gestellt werden. 

 

Fotos der Gerichte: Haarala Hamilton, AT Verlag