Fotos: Nico Schärer
Strafe muss sein. Missverständnis im Whatsapp-Chat: Clare Smyth steht um zehn Uhr am Eingang zum Borough Market, Andreas Caminada knapp neun Kilometer weiter westlich vor Clares Restaurant in Notting Hill. Doch zum Glück ist London die Stadt der 56'000 Taxis und der Verkehr an diesem windigen Morgen ungewöhnlich flüssig. So trifft Andreas schon eine halbe Stunde später zum Spaziergang über Londons ältesten Lebensmittelmarkt ein. «Lass uns gleich mal eine Auster probieren», sagt Clare, wohlwissend, dass ihr Gast als Sohn der Berge kein Freund dieser Delikatesse ist. «Strafe muss sein, ich hätte die Nachricht im Chat genauer lesen sollen», entgegnet Andreas lachend, folgt Clare zu einem Stand mit Meeresfrüchten und schlürft dort tapfer seine Auster.
Ein Jahrtausend Geschichte: Westminster ist eines der bedeutendsten Wahrzeichen Londons.
Clare Smyth kam mit 18 nach London und fühlt sich der Stadt tief verbunden.
Der Borough Market ist ein Paradies für Foodies – auch Clare liebt diesen Ort.
Clare im Shopping-Rausch. Und, wars wirklich so schlimm? «Eigentlich gar nicht», sagt Andreas erleichtert. «Tia-Maraa-Austern aus Irland haben eine fleischige Konsistenz und schmecken nussig-süsslich. Die mineralischen Noten sind sehr dezent», erklärt Clare, deren grosse Leidenschaft all den fantastischen Produkten gilt, die es auf und um die Britischen Inseln herum gibt. «Obwohl die Lagerräume in meinem Restaurant prall gefüllt sind und täglich frische Ware eintrifft, kann ich mich auf einem so schönen Markt wie hier nur schwer beherrschen», gibt die Drei-Sterne-Köchin zu. Den Beweis liefert sie ein paar Schritte weiter an einem Stand mit Fisch und Meeresfrüchten in kunstvoll gestalteten Konservenbüchsen. Clare entscheidet sich für Miesmuscheln aus Cornwall mit ’Nduja, geräucherten Thunfischbauch in Olivenöl, Squid in der eigenen Tinte, Entenmuscheln und Seeigelzungen. «Gehen wir, sonst kaufst du noch den ganzen Markt leer», scherzt Andreas.
Erinnerungen an die nordirische Heimat: Clare gönnt sich mit Andreas ein Guinness.
20'000 Pints pro Woche – in einem einzigen Pub. Auf nach Soho also! Ins «The Devonshire», ein original irisches Pub mit beeindruckendem Guinness-Verbrauch (zwischen 18'000 und 20'000 Pints pro Woche) und exzellenter Küche. Ashley Palmer-Watts, einer der Besitzer des Lokals, war 20 Jahre lang Heston Blumenthals rechte Hand und massgeblich daran beteiligt, dass sein Chef mit dem «The Fat Duck» in die Drei-Sterne-Liga aufstieg. Heute lässt Ashley die besten Steaks in ganz London auftischen. «Wir haben einen eigenen Metzger und reifen alles Fleisch bei uns im Haus», erklärt er. Zubereitet werden die Schätze auf einem Holzkohlegrill, der an den Heizkessel einer Dampflokomotive erinnert. Andreas kann sich von dem Gerät kaum losreissen und will unbedingt auch die Reifekammer besichtigen.
Die City ist Londons Bankenzentrum, ihre Architektur beeindruckt Clare und Andreas gleichermassen.
Die vielleicht besten Fries der Welt. Trotz der Spezialisierung auf Fleisch sind Steaks längst nicht die einzigen kulinarischen Attraktionen
im «The Devonshire»: Auch eine prachtvolle Tranche Steinbutt mit Sauce hollandaise, Jakobsmuscheln mit Speck und Malzessig oder geschmorte Rindsbäggli mit Guinness-Sauce kann man hier geniessen. Dazu wunderbar fluffiges Brot aus der hauseigenen Bäckerei und «Triple Cooked Fries», goldbraun ausgebacken in Entenfett. Ein weiteres Markenzeichen von Londons populärstem Pub: der «Private Room» im Erdgeschoss, wo des Öfteren Konzerte stattfinden und Foto- oder Videoaufnahmen verboten sind. Ein Abend hier ist wie eine Reise in die Zeit vor der Erfindung des Smartphones. Auch deswegen liebt Clare diesen Ort.
Clare liebt Autos, mit Andreas ist sie aber zu Fuss und per ÖV in London unterwegs.
Eine feine Dame auf vier Beinen. Für den Spaziergang im Hyde Park am Nachmittag gesellt sich noch eine Dame der feinen Londoner Gesellschaft zu uns. Sie heisst Storm, trägt um den Hals einen Anhänger von Tiffany und begleitet Clare seit zehn Jahren fast überallhin. «Storm hat wohl das weisseste Fell in ganz Grossbritannien», scherzt Clare. «Die Parks in London sind so gepflegt, dass sie nicht mal dann schmutzig werden würde, wenn sie es wollte.» Aber eben: Die West-Highland-Terrier-Hündin ist eine feine Dame, schreitet brav und stolz an der Seite ihres Frauchens und lässt sich auch von den drei Palastwachen nicht beunruhigen, die auf dem Weg zum Park an uns vorbeireiten. Clare schwärmt derweil von den Pferden, mit denen sie in Nordirland auf der elterlichen Farm aufgewachsen ist. «Wundervolle, kluge Wesen, die eine enge Verbindung zu uns Menschen aufbauen und unsere Energie spüren.» In ihrer Jugend nahm die Starköchin an Springturnieren teil und wäre wohl Profireiterin geworden, wenn ihre Passion für die Kulinarik nicht so gross gewesen wäre.
Range Rover, Porsche und Ferrari. In London muss Clare aufs Ausreiten verzichten, dafür ist sie mit vielen Pferdestärken unterwegs. «Ich bin eine Autonärrin», gibt sie zu. In ihrem Fuhrpark: ein Porsche 911 Targa, ein Ferrari Roma und ein Range Rover. «Meine Leidenschaft für Autos ist ein Segen», betont Clare. «Während die meisten Leute in London sich über ihren Arbeitsweg ärgern, geniesse ich jede Minute am Steuer.» Ob der Porsche oder der Ferrari ihr liebstes Fahrzeug ist, kann sie nicht sagen. Storm aber hat einen klaren Favoriten: den 911er mit dem Glasdach. Bisweilen begleitet die Hundedame Clare auch in ihr Restaurant, das «Core by Clare Smyth». Sie hat sogar ein weisses Mäntelchen mit der Aufschrift «Executive Sous Chef».
Willkommen im «Core by Clare Smyth»: Wer dieses Schild sieht, ist dem Genuss ganz nah.
London Eye – eine der grossen Attraktionen der Stadt. Im Hintergrund liegt Westminster.
Ein Spiegel von Clares Wesen. Die Einrichtung des «Core» wirkt wie ein Spiegel des Wesens seiner Besitzerin: natürlich, geradlinig und voller kleiner Überraschungen. Gemütliche Sessel, mit unprätentiösen Blumensträusschen geschmückte Tische mit blanker Oberfläche und frische Farben prägen die Speisesäle. Auf Regalen an den Wänden stehen historische Kochbücher in Ledereinbänden und auffällig viele alte Ausgaben des «Guide Michelin», manche davon aus den 1960er-Jahren. «Unsere Stammgäste wissen, dass ich solche Bücher sehr mag, also beschenken sie mich wieder und wieder. So entstand eine grosse Sammlung», erklärt Clare. Einen Ehrenplatz darin hat «Cuisine Naturelle» von Anton Mosimann. Sie kaufte den Band als 15-Jährige und war überglücklich, als sie ihn im Sommer 2018 von Mosimann signieren lassen konnte. «Wir kochten zusammen an der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle. Anton ist ein echter Gentleman und einer der Wegbereiter der kulinarischen Kultur in Grossbritannien», sagt sie.
Potatoes and Roe: Clares Signature Dish setzt auf Kartoffeln, Rogen und den Zauber von Seetang.
Eine Kartoffel mit drei Sternen. In der durch ein grosses Fenster vom Restaurant abgetrennten Küche, die vor jedem Service blitzblank poliert wird, richtet Clare für uns ihr Signature Dish an: Potato and Roe. «Obwohl in meiner Kindheit jeden Tag Kartoffeln auf den Teller kamen, liebe ich sie noch immer. Für dieses Gericht kochen wir Charlotte-Kartoffeln zusammen mit Seetang und schaffen so eine Brücke zwischen Land und Meer. Dazu gibt es eine Beurre blanc sowie Rogen von Forelle und Hering. Darauf kommen noch Chips aus fermentierten Kartoffeln und Sauerampfer», führt unsere Gastgeberin aus. Die nächste Kreation ist ebenso leicht wie puristisch: ein prächtiger Kaisergranat mit zarten Erbsen (natürlich ohne Häutchen!) und einer schaumigen weissen Sauce mit kitzelnder Schärfe. Diese kommt von englischem Wasabi, der in von Frischwasser durchströmten Becken gedeiht, in denen früher Brunnenkresse angebaut wurde. Zum «Core by Clare Smyth» gehört auch eine Bar. Ihr Name «Whisky & Seaweed» ist Programm. Es gibt hier von jeder Whiskybrennerei im Vereinigten Königreich mindestens eine Flasche – und einen Cocktail, der die Aromen von Whisky und Seetang verbindet.
«Big Ben» darf auf einer Stadtrundfahrt durch London im Programm nicht fehlen.
Im «Devonshire Pub» grüsst Queen Elizabeth II. von einem Bild.
Gordon Ramsay, der Mentor. Trotz ihren Wurzeln auf dem Land fühlt sich Clare heute voll und ganz als Londonerin. Als sie mit 18 in die aktuell 8,8 Millionen Einwohner zählende Metropole kam, war das aber schon ein kleiner Kulturschock. «Ich hatte Heimweh, doch auch einen grossen Plan. Ich wollte eine berühmte Köchin werden», blickt sie zurück. «Neben der Arbeit blieb mir zum Glück nicht viel Zeit zum Nachdenken. Arbeiten, schlafen, arbeiten. Das war der Rhythmus an den meisten Tagen. Es war streng, aber die Küche wurde mir auch zur Heimat, das Team zur Ersatzfamilie.» 2002 – Clare war 24 Jahre alt und Küchenchefin im St Enodoc Hotel in Cornwall – bot ihr Gordon Ramsay eine Stelle an. Sie sagte zu. Eine schicksalhafte Entscheidung. Ramsay, dem TV-Publikum vor allem als fluchendes Raubein bekannt, wurde zu ihrem grossen Förderer. Er machte sie 2007 nach Intermezzi bei Alain Ducasse in Monaco und Thomas Keller in den USA zur ersten Britin an der Spitze eines Drei-Sterne-Lokals. «Ich war überglücklich, hatte aber Angst, ich könnte auch die erste Köchin sein, die den dritten Stern wieder verliert», sagt Clare. Eine unnötige Sorge: Die drei Sterne waren bis zu ihrem Abschied vom Restaurant Gordon Ramsay 2016 in Stein gemeisselt.
Absolute Präzision: Clare Smyth beim Anrichten in der «Core»-Küche.
Clare ist eine begeisterte Reiterin – darum sprang ihr dieses Bild sofort ins Auge.
Der Traum vom Lokal in Nottinghill. Ein grosses Ziel gab es noch zu erreichen: drei Sterne im eigenen Restaurant. «Die Suche nach der passenden Immobilie war schwierig. 2017 aber bot man mir ein Lokal in Notting Hill an, das ich auch wegen des Films mit Julia Roberts und Hugh Grant liebe», erzählt die Köchin. Es war ein «perfect match». «Das Haus vermittelt den Gästen das Gefühl, in einem Privathaus zu Besuch zu sein. Genau das wollte ich», betont Clare. Schon im ersten Jahr nach der Eröffnung erstrahlten zwei Sterne über dem «Core by Clare Smyth». 2021 folgte der Aufstieg in den gastronomischen Olymp. Sich dort auszuruhen, passt nicht zu Clares Wesen. Sie ist stets neugierig, ehrgeizig und perfektionistisch geblieben. Und sie kämpft als eine von weltweit nur acht Frauen mit der Höchstwertung des «Guide Michelin» dafür, dass es für Köchinnen einfacher wird, sich in der von Männern dominierten Gastronomie durchzusetzen. Sie ist überzeugt: «Frauen in den Küchen nützen auch den Männern. Ihre Anwesenheit sorgt für einen respektvolleren Umgangston und für bessere Stimmung.»