Text: Daniel Böniger

Gala in elf Gängen. Auf der Titanic war die Welt noch in Ordnung. Das Abendmenü am 14. April 1912 für die Gäste der 1. Klasse war schlichtweg überwältigend: Am Abend vor dem Untergang gab es insgesamt elf Gänge! Zu Beginn Shrimps-Canapés und Austern «à la russe». Gefolgt von mehreren Suppen, einem pochierten Lachs mit Sauce Mousseline und diversen Fleischgerichten, darunter ein sehr britisches Lamm an Minzesauce mit Reis und Erbsen. Bemerkenswerterweise wurde ein Spargelsalat mit Champagner-Safran-Vinaigrette erst danach serviert. So wie die Nachspeisen (u.a. Pfirsich in Chartreuse-Gelée), der Käsegang und die obligate Zigarre... Wo gibt es solche Opulenz noch? (Grosses Bild oben: Dessert von Christian Kuchler mit Nougat & Kalamansi.)

Wie eine Speisefolge in der gehobenen Gastronomie aussieht, ist immer auch Ausdruck des Zeitgeistes. Mal abgesehen davon, dass niemand mehr lange fünf Stunden am Tisch sitzen mag und die Mehrgänger nur schon wegen der Kalorienfülle verschlankt wurden – es gibt einige charakteristischen Punkte in der Menüfolge, über die derzeit besonders heftig debattiert wird.

#1 Der Brotgang

Was früher blosse sättigendes Beiwerk war, ist inzwischen ein wichtiger Teil der Show. Vielerorts haben Gäste die Auswahl zwischen fünf oder sechs köstlichen Brotsorten, etwa im «The Restaurant» im Dolder Grand Zürich. Und auf dem Tisch stehen auch gleich verschiedene Aufstriche: Bei «Koch des Jahres 2023» Benoît Carcenat sind es je eine regionale Butter aus Kuh-, Ziegen- und Schafmilch! Verblüffend unterschiedlich!

Wenig erstaunlich setzen viele Küchenchefs damit inzwischen ein Ausrufezeichen – und lancieren gar einen eigenen Brotgang. Darunter so illustre Namen wie Sven Wassmer, Patrick Mahler oder Daniel Humm. Wieso das? «Viel zu schade, wenn unser köstliches Brot die verdiente Aufmerksamkeit nicht bekommt», sagt stellvertretend Vilson Krasnic vom Restaurant Elmira in Zürich, wo das Brot einen eigenen «Akt» bekommt. «Zudem gibt das mir etwas mehr Zeit für den nächsten Gang.» 

 

Brot, Sauerteigbrot, Sven Wassmer, Memories, Andy Vorbusch  © David Schnapp

Brot in Szene gesetzt im «Memories by Sven Wassmer», Grand Resort Bad Ragaz.

#2 Das Sorbet

Ein süsses Gericht zwischendurch, bevor das Fleisch kommt? Was früher Usus war, ist heute eher aus der Mode gekommen. Trotzdem gehört das Sorbet in einigen tollen Restaurants wie im 18-Punkte-Restaurant Taverne zum Schäfli in Wigoltingen TG dazu. «Es soll ein Gaumenreiniger sein!», erklärt Küchenchef Christian Kuchler (18 Punkte). «Natürlich schauen wir, dass saure und bittere Aromen darin enthalten sind, und so die Süsse nicht überwiegt.» Von den meisten Gästen würde die Erfrischung vor dem Hauptgang geschätzt - ausser sie haben schon einen hochklassigen Rotwein im Glas. 

 

Christian Kuchler - GaultMillau Garden Party 2022 - Bad Ragaz - 14.8.2022 - Copyright Olivia Pulver

Christian Kuchler setzt auf Sorbets: Es soll ein «Gaumenreiniger» sein.

#3 Braucht es den Hauptgang?

Im «Josef» in Zürich wurde sie bereits 2004 proklamiert – die Abschaffung des Hauptganges. Die Idee dahinter: Viele Gäste bevorzugen die oft kreativeren Vorspeisen und wollen lieber vier als nur zwei Teller bestellen... Seltsamerweise hat sich das Konzept in der hiesigen gehobenen Gastronomie bisher nicht durchsetzen können. Was allerdings in den letzten Jahren ziemlich trendy wurde: all die Tavolatas und Sharing Dishes, etwa in den Igniv-Restaurants von Andreas Caminada, im «Birdy’s» in Brunnen oder in der «Neuen Taverne» in Zürich.

Dass auswärts am Tisch vermehrt geteilt werde, verwundere ihn nicht, sagt Gastgeber Valentin Diem von der «Neuen Taverne» (16 Punkte): «Sei es in Mexiko, Indien, China - die Mehrheit der Menschheit kennt keinen klassischen Hauptgang.» Und auch bei uns in der Schweiz, so fügt er an, sei es wohl in den wenigsten Privathaushalten üblich, die Hauptspeise - Fleisch, Gemüse und Sättigungsbeilagen - im Tellerservice zu servieren: «Bedienstete haben ja die wenigsten.» Noch einen Vorteil des Sharings nennt er: Jeder nimmt, worauf er Lust hat. «Wer einen ganzen Teller für sich alleine möchte, darf dies aber selbstverständlich auch.»

 

Restaurant Josef, David Heimer, Küchenchef

Verzichtet auf den typischen Hauptgang: Der Schwede David Heimer im Restaurant Josef, Zürich.

#4 Der Käse

Einen Käsewagen? Ausgestorben ist er trotz aller Unkenrufe noch nicht. Es gibt ihn weiterhin in so klassischen Lokalen wie dem Cheval Blanc im Hotel Trois Rois in Basel (19 Punkte); dort setzt Peter Knogl auf die Milchprodukte von Käseveredler Maître Anthony. Und auch neue Restaurants lassen den Wagen vorfahren wie das erst kürzlich eröffnete Colonnade im Mandarin Oriental in Luzern.

Weil es ziemlich kostspielig ist, ein solches Gefährt mit ausgewählten Produkten zu bestücken, weichen Restaurants aber nicht selten auf einen überschaubareren Käsegang aus - angerichtet in der Küche. Ein gutes Beispiel hierfür ist der «Aufsteiger des Jahres 2023» Dominik Hartmann, der im Magdalena in Rickenbach SZ (17 Punkte) eine hausgemachtes Plundergebäck auftischt, gefüllt mit «Altem Schwyzer» und Holunderbeeren, bestreut mit ordentlich Schnittlauch. 

 

Käsewagen bei Bernadette Lisibach, Neue Blumenau in Lömmenschwil SG.

Käsewagen bei Bernadette Lisibach, «Neue Blumenau» in Lömmenschwil SG.

#5 Wann ist Zeit fürs Süsse?

Ob es ein Dessert wirklich braucht? Diese Frage wird höchst selten gestellt – viel zu beliebt sind die süssen Kreationen landauf, landab. Was allerdings schon diskutiert wird: Wann sollen eigentlich die Süssigkeiten serviert werden? (Siehe «Sorbets» weiter oben) Im «Maison Manesse» in Zürich (16 Punkte) wird schon mal das Fleisch vor dem Fisch aufgetragen. Oder eine typische Komponente aus dem Dessert viel früher ins Menü eingebaut: letzten Sommer zum Beispiel fermentierte Aprikosen, die zusammen mit gelben Zucchini, Salbei und Knoblauch zum Gemüsegang wurden. «Das vielerorts als Amuse-Bouche inzwischen Maccerons serviert werden, die mit weniger Zucker als üblich gemacht sind, geht in die gleiche Richtung», sagt Küchenchef Benjamin Plsek. Könnte er sich vorstellen, auch mal das ganze Dessert an den Anfang zu stellen? «Eher nein. Man darf zwar alles hinterfragen, aber nicht alles wurde die letzten 100 Jahre verkehrt gemacht.»  

Wie hat es einer der international anerkanntesten Patissiers der Welt, Jordi Roca (El Celler de Can Roca, Girona), formuliert? «Durch die Süsse in den Nachspeisen werden die Geschmacksknospen geschlossen. Dieser Vorgang darf zu keinem anderen Zeitpunkt im Menü passieren - sondern er gehört ans Ende.» Wohl wahr.

 

Maison Manesse 2021: Benjamin Plsek (Küchenchef)

Hinterfragt die klassische Speisefolge: Benjamin Plsek, Küchenchef im «Maison Manesse», Zürich.

Nichtsdestotrotz: Bei der Menüfolge bleibt vieles möglich - und wir sind ganz schön froh, gleicht nicht jede der anderen. Es müssen ja nicht jeden Tag gleich elf Gänge wie auf der Titanic sein... 

 

Fotos: Andy Vorbusch, Olivia Pulver, Nik Hunger, Marcus Gyger, Thomas Buchwalder.