Text: Christian Berzins I Fotos: Bruno Zanzottera

Der Gorgonzola kommt nicht aus Gorgonzola. 500-Euro-Frage: Woher kommt der Emmentaler? 1000-Euro-Frage: Woher kommt der Camembert? Beide Käse-Fragen sind einfach zu beantworten. Aber ob die Frage, woher der Gorgonzola kommt, in «Wer wird Millionär» die 250000- oder bloss die 2000-Euro-Frage wäre, ist nicht so klar. Rasch nämlich ist ein Mailänder Vorstadt-Kaff mit dem Namen Gorgonzola ergoogelt, erreichbar mit der Metrolinie 2. Und naturgemäss gibt es eine Legende mitsamt Käser und schöner Magd, die die Erfindung des Gorgonzolas nicht nur dorthin, sondern in eine Schöpfungsnacht ins Jahr 879 verortet. Das ist so exakt, dass es falsch sein muss. Und käme der Käse Gorgonzola tatsächlich aus Gorgonzola, wäre dieser Text an dieser Stelle fertig, gibt es doch dort nur noch eine Käserei, die einen Blauschimmelkäse herstellt. Allerdings macht man das mit Ziegenmilch, was gemäss den Regeln kein Gorgonzola ist. Doch wohin also, um einen echten Gorgonzola-Produzenten kennen zu lernen? Grosses Bild oben: Giorgio (l.) & Giuseppe Pedretti 

Im Keller der Fratelli Pedretti. Dank der Internet-Seite www.gorgonzola.it des Konsortiums für den Schutz des Gorgonzolas erfahren wir, dass dieser famose Käse nur in zwei italienischen Regionen – in fünf piemontesischen Provinzen und im Gebiet von Casale Monferrato sowie in zehn lombardischen Provinzen – hergestellt wird. Immerhin. Und unter den 39 Mitgliedern wählen wir die Gebrüder Pedretti aus, deren Etikette mit Rotkäppchen und Wolf geschmückt ist. Via Autobahn Mailand–Turin erreichen wir das Städtchen Robecco sul Naviglio, ein Feldweg führt zu einem stattlichen Tor. Bloss ein Schild betreffend einen Direktverkauf lässt uns erahnen, dass wir bei den Pedrettis sind. Doch schliesslich steht der Signore im Hof und sagt auf das Schild deutend: «Nur 1 bis 2 Prozent der Produktion gehen über unsere Theke.» Vielleicht lächelt der 67-jährige Giuseppe Pedretti zu den Worten, um ernst anzufügen: «So etwas braucht Personal. Das lohnt sich für uns nicht. Wir sind immer hier. Die Kunden können kommen.» Beim Betreten der Produktionshalle taucht auch der neun Jahre jüngere Bruder Giorgio auf. Fehlt nur noch Paolo, der 32-jährige Sohn Giuseppes, der mit im Boot sitzt. Schon Urgrossvater Pedretti habe Käse gemacht, sagt Giuseppe.

Gorgonzola producers Giuseppe and Giorgio Pedretti in their dairy in Robecco sul Naviglio Einmalige Nutzung für GaultMillau-Channel, Honorar 200 CHF

Sein Gorgonzola geht um die Welt: Giuseppe Pedretti.

Der Gorgonzola sank schon mit der Titanic. Gorgonzola ist nach Parmesan und Mozzarella der berühmteste italienische Käse. Das ist schon lange so: Als die «Titanic» unterging, war auf der Käseplatte dieses Galadinners ein einziger aus Italien zu riechen: ein Gorgonzola. Ob solcher Geschichten zuckt Giuseppe Pedretti bloss mit den Schultern. Vom Mythos kann er nicht leben. Das Beste für ihn am Gorgonzola ist, dass er immer gefragt, aber nie in Mode war. «Es war auch das Brot der Maurer: Wer ein Gorgonzola-Brot ass, hatte Energie, das Material vier Stockwerke hochzutragen. Jetzt macht das der Kran. Dennoch: Gorgonzola ist ein unglaubliches Produkt.» Kaum gesagt, relativiert er auf seinen Käse zeigend seine Worte: «Wenn Sie den heute Abend zu Hause in den Kühlschrank legen, ist die Gefahr gross, dass Ihre Frau nächsten Morgen klagt: ‹Mamma mia, was stinkt denn hier so?›»

Das erotisierende Stinken macht den Käse einzigartig. Doch genau dieses erotisierende Stinken macht den Gorgonzola zusammen mit seiner Konsistenz einzigartig. Wer meint, ihn nicht gerne zu haben, irrt sich ziemlich sicher, ist von falschen Erwartungen geprägt, sollte versuchen, seine Geschmacksnerven zu sensibilisieren. Gorgonzola ist ein so eigenständiges Produkt, dass es grösste Bewunderung verdient. «Dolce» und «Piccante» sind im Angebot, doch «süss» oder «scharf» ist weder der eine noch der andere, viel eher cremig umgarnend, hier verführerisch, atemberaubend kräftig da. Nur der Gorgonzola-Novize meint, jeder Gorgonzola sei gleich. Wer den Löffel in die weiche Masse taucht, wird sein blaues Wunder erleben.

Gorgonzola producers Giuseppe and Giorgio Pedretti in their dairy in Robecco sul Naviglio Einmalige Nutzung für GaultMillau-Channel, Honorar 200 CHF

Gorgonzla No. 90! Von den Fratelli Pedretti.

Gorgonzola producers Giuseppe and Giorgio Pedretti in their dairy in Robecco sul Naviglio Einmalige Nutzung für GaultMillau-Channel, Honorar 200 CHF

Ein Stück Gorgonzola. Perfekt auch für Gnocchi.

Der Reifeprozess ist heikel. 108 Formen, eine jede mit 60 Liter Frischkäse gefüllt, liegen auf den Tischen. Jetzt muss er praktisch nur noch reifen. Doch dieses «nur noch» kann man sich sparen, Pedretti sagt gar: «Der Gorgonzola ist einer der heikelsten Käse, die es gibt. 90 Tage lang kann viel schiefgehen. Das ist lange. Und wenn ich heute Mist baue, sind die 90 Tage für die Katz. Das ist schmerzvoll.» Gefährlich wird es vor allem beim Dolce, dem weicheren Käse. Da muss sich in den 30 Tagen die Masse bilden und härter werden; nur wenn es stabile Löcher gibt, kann der Edelschimmel atmen: «Wenn er zu weich ist, verfallen sie und der Prozess wird gestoppt. Gehe ich aber zu schnell voran, ist alles viel zu kompakt, zu grün auch.» 

Der Gorgonzola No. 90! Doch wenn es in die Reifung geht, sagen die Pedrettis ihren Käsen bereits «Ciao» – oder eher «Addio». Man hat nicht den Platz, jeden Tag Hunderte Kilo in einen Kühlraum zu bringen und 90 Tage zu warten. Und so gibt man den Käse dem Grossproduzenten Ciresa, in dessen Etikette er in den Verkauf kommt. Bis nach China geht die Reise. Vor der Annexion der Krim durch Russland auch in Putins Reich. Die Pedrettis haben keine Etikette, aber der Ärger und die Sorgen sind ihnen geblieben: «Wenn mein Käse schlecht ist, dann weiss der Kunde nicht, wer der Schuldige ist, aber der amerikanische Händler sehr wohl.» Jeder Käse der Pedrettis trägt nämlich die Nummer 90, sie verrät die Brüder – oder adelt sie eher. 

Gorgonzola producers Giuseppe and Giorgio Pedretti in their dairy in Robecco sul Naviglio Einmalige Nutzung für GaultMillau-Channel, Honorar 200 CHF

Handarbeit in Robecco su Naviglio: Giorgio Pedretti.

Gorgonzola mit Gnocchi. Giorgio Pedretti isst seinen Gorgonzola am liebsten mit Gnocchi, aber auch auf der Pizza oder auf dem Steak schmecke er gut. Auf der Homepage des Gorgonzola-Konsortium finden sich Dutzende Rezepte. Am ehrlichsten und eindrücklichsten ist es, ihn auf Brot zu servieren, so wie es der Held aus James Joyce’ Roman «Ulysse» am 16. Juni 1904 in einem Dubliner Pub erhält. Am 16. Juni gibt es im Davy Byrnes Pub jeweils ein Gorgonzola-Fest. Kein einfacher Käse, ein günstiger hingegen schon: Selbst beim Delikatessen-Laden «Peck» in Mailand kostet das Kilo nicht mehr als 25 Franken. Schon mit 150 Gramm Gorgonzola kann man Gnocchi für sechs Personen zubereiten oder Pumpernickel-Brötchen für ein Dutzend Gäste bestreichen.

>> Christian Berzins ist Autor bei CH Media. Seine Themen: Oper, Konzert, Theater, Essen & Trinken.