«Erschrecke nicht ab dem Nagellackentferner-Geruch.» – «Der Wein könnte ein wenig mäuseln.» – «Lass Dich nicht von den Rossstall-Aromen beirren.» Wie um Himmelswillen soll ich nun diesen Wein entspannt trinken können? Muss ich mich darauf freuen? Die ersten Schritte in der Naturweinwelt gleichen einer Mutprobe. Vor allem wenn der etwas trübe Wein frisch eingeschenkt wird und noch nicht atmen konnte. Ab und zu passiert es zwar immer noch, dass mir aufdringliche Gerüche von Skilager-Massenschlag oder ein Hauch vergessenes Turnsäckli entgegen strömen. In fast allen Fällen beruhigt sich der Wein aber nach 20 oder 40 Glasschwenker.

 

Was Wein betrifft, wurde ich ganz konventionell erzogen: Im Reb- bzw. Weinbau gibt es Regeln zu beachten und die Harmonie im Wein ist des Winzers grösste Erfüllung. Ich lernte die Geschmäcker der verschiedenen Traubensorten zu erkennen und ich merkte mir, wie die typischsten Terroirs schmecken. Plötzlich sass ich eines Tages in der «Wild Bar» in Zürich, wo meine Welt kurz auf den Kopf gestellt wurde: Trockene Weine mit 10 % Alkohol, ein leichter Nero d’Avola, unharmonische Weine mit überpräsenter Säure, keine Jahrgangsangaben und leicht prickelnde Rotweine. Mir wurde erklärt, dass es Naturweine seien. Fermentierter Traubensaft, bei dessen Herstellung nichts hinzugefügt oder entfernt wird. «Ich finde aber, dass dieser Winzer unbedingt und zwingend was einsetzen oder wegnehmen muss, dass ist ja nicht zum Aushalten!» Meine Skepsis wurde nur noch grösser, als der Gastronom meinte, dass das «Natur» in «Naturwein» nicht zertifiziert sei. Ferner arbeiten die Naturwinzer ausserhalb von Appellationen, so dass die Weine zu Tafelweinen «deklassiert» werden, auch wenn sie Lagen hätten, die in klassifizierten Anbaugebieten wären. Für mich der Gipfel!

 

Dank dem Motto «Learning by Drinking» und etlichen Diskussionen wuchs ich mit der Aufgabe. Ich realisierte, dass das Keltern fernab von Regeln, Herkunftsbezeichnungen und Erwartungen zu individuellen, kreativen, lebendigen und neuen Weinen führt. Das grösste Learning, das ich aus meiner Odyssee ziehen kann, ist, dass die Qualität des Naturweins nicht im «Nichts-machen» liegt, sondern in der extremen Präzision des naturnahen Rebbaus, der Ernte, der Sortierung und der vorsichtigen Kelterung. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen beziehungsweise die fehlerhaften von den faszinierenden Fermentationsaromen. Obwohl ich meine konventionellen Weine unglaublich schätze und ziemlich sicher «too school for cool» bin, erschrecke ich nicht mehr ab Naturweinen, sondern werde einfach jedes Mal wieder überrascht. 

 

Immer schön lüften, Edvin.
 

Matassa
Matassa

Coume de l’Olla blanc 2017
Cultivino
CHF 23.50

Arianna Occhipinti
Arianna Occhipinti

Nero d’Avola 2014
Cultivino
CHF 33.00 

Johannes Zillinger
Johannes Zillinger

Revolution White Solera N.V
Paul Blume Wein
CHF 25.00