Text: Urs Heller
# 1: Benoît Carcenat: Am Anfang war die Zwiebel. Zwiebeln fand ich jahrelang zum Heulen und nur zu einer wirklich guten Bratwurst einigermassen okay. Bis ich Benoît Carcenat (grosses Bild oben) erstmals im «Valrose» in Rougemont VD besuchte. Der Chef servierte mir die Zwiebel meines Lebens: Er hievte eine ganz normale, bäuerliche «Gratinée d’oignon» in den siebten Gourmethimmel, klärte und konzentrierte die Zwiebelsuppe, stellte ein Öl aus verbranntem Käse her, um den typischen Gratin-Geschmack hinzukriegen. Den Rest der Geschichte kennen Sie: Ich fuhr wieder und wieder hin. Ich schickte meine besten Tester nach Rougemont. Am Schluss waren wir uns einig: Carcenat ist unser «Koch des Jahres», eine typische GaultMillau-Entdeckung. Manchmal macht eine simple Zwiebel den Meister.
# 2: Dominik Hartmann und sein Vegi-Ding. Das «Jahr der Zwiebel»? Auch Dominik Hartmann im «Magdalena» wagt sich an die «Allium cepa», serviert sie geschmort, mit Zitronenconfit, Zitronen-Gel, Thymian-Öl und Röstzwiebel-Beurre blanc mit Vadouvan. Nicht die einzige Überraschung in seinem «100 Prozent Vegi»-Menü: Auch die Kabisessenz hatte Klasse. Und vom zwölf Stunden lang geschmorten Kopfsalat mit Kopfsalatsorbet, Petersilienwurzel-Ceviche, Bergamottgel, Finger Limes und Yuzukosho-Mayo war ich hell begeistert. Werde ich auf meine alten Tage hin noch zum Vegetarier? Ganz sicher nicht. Aber kocht einer so konsequent und gut wie Dominic Hartmann, springe ich gerne über meinen Schatten.
# 3: Danke Franz. Merci Bernard. Zwei Chefs, die mir über Jahrzehnte hinweg sehr viel bedeutet haben, sagten dieses Jahr «Tschüss»: Franz Wiget und Bernard Ravet. Beide werde ich sehr vermissen, beide habe ich auch ganz privat gerne besucht. Ravet zeigte in Vufflens-le-Château 33 Jahre lang, dass man es auch ohne Sponsoren und Mäzene und nur mit geballter «Family Power» in die höchste Liga schafft. Wiget ist der Erfinder der alpinen Schweizer Küche, verwertete 35 Jahre lang, was auf Schwyzer Weiden aufwuchs und gedeihte, machte aus einer simplen Agria-Kartoffel einen Signature Dish («Gummelistunggis») und verzichtete bei aller Liebe zur Heimat nicht auf Langustine, Küstenkabeljau und Hummer; unglaubliche Saucen waren sein Markenzeichen. 2012 zeichnete ich Franz Wiget als «Koch des Jahres» aus. Das war ein Statement: Es muss nicht zwingend ein Luxusrestaurant sein, um diesen Titel zu gewinnen. Eine liebevoll geführter Landgasthof mit einem sehr begabten und fleissigen Chef am Herd schafft das auch.
# 4: Zwangsmenüs? Kennt man in Crissier nicht. Ich nehme es zähneknirschend zur Kenntnis: Immer mehr Köche, auch die Stars der Szene, legen uns Gästen nur noch ein Einheitsmenü vor, allenfalls mit einer Vegi-Variante und mit ein paar «Specials». Die ganz grosse Speisekarte liegt fast nirgends mehr auf, und dafür gibt es zugegebenermassen gute Gründe: Fachkräftemangel und deshalb kleinere Brigaden. Die Sorge um Foodwaste. Das oft etwas übertriebene Streben nach Perfektion. Im «Hôtel de Ville» in Crissier VD kennt man das Einheitsmenü nicht. Da kocht man das volle Programm, ist man für jeden Sonderwunsch klaglos zu haben. Am liebsten sitze ich am «Chef’s Table» draussen in der Küche, beobachte die 24 Köche bei ihrer konzentrierten Arbeit und staune immer wieder über Patron Franck Giovannini: Er leitet die Brigade mit stoischer Ruhe und sanftem Lächeln, er bleibt bei allem Erfolg geerdet. Einfach ein toller Kerl. Für mich ist jedes Essen in Crissier ein Festessen. Für andere offenbar auch: Das Restaurant ist auf Monate hin ausgebucht.
# 5: Peter Knogls 500 Rougets an der GaultMillau Garden Party. Mein schönster Gourmet-Termin des Jahres? Die elegant-entspannte GaultMillau Garden Party im Grand Resort Bad Ragaz. Der Event begeistert die Gäste. Und offenbar auch die Chefs: Sie sagen spontan zu, wenn wir ihnen einen Platz im Party-Line-up anbieten. Dieses Jahr hat mich Peter Knogl am meisten verblüfft. Er rief mich im letzten Moment an und bat darum, ein anderes Gericht zu kochen. «Mein erster Vorschlag war viel zu einfach», sagte der schweigsame 19-Punkte-Chef, «ich würde lieber meine Rougets mit frittierten Schuppen zubereiten.» Rotbarben für 500 Personen? «Passt schon», winkte Peter Knogl ab. Es passte wirklich: Die 500 Gäste waren begeistert. Die Kollegen ziemlich beeindruckt.
# 6: «Haben Sie mir einen Geheimtipp?» Klar doch! Wir geben einen Guide heraus, jeden Sonntagmorgen einen Newsletter mit spannenden Restaurant-Adressen, ein halbes Dutzend Magazine, aber das reicht offenbar nicht: «Haben Sie mir einen Geheimtipp?», werde ich immer wieder gefragt. Nun, am liebsten empfehle ich Restaurants, die man auch mit einem modernen GPS-System nicht auf Anhieb findet. Im Tessin beispielsweise das «Cuntitt», eine Osteria im kleinen Dorf Castel San Pietro im Mendrisiotto. Federico Palladino kocht dort, am liebsten nach dem «Kilometro zero»-Prinzip. In bester Erinnerung: Die Tagliolini mit geräucherter Butter, hergestellt aus «trenta tuorli» (30 Eigelb!). Der «Salmerino» (Saibling), mariniert und leicht karamellisiert, mit Wasabi in der Mayo. Oder auch nur ein «Ovetto», ein legefrisches Bio-Ei von den kleinen Hühnern, die durch die umliegenden Weinberge gackern. Chef Federico war unsere «Entdeckung des Jahres 2022». «Geheim» ist dieser Tipp seither nicht mehr.
# 7: Steinbock-Seckel, Gitzi-Ragout & Schwartenmagen. Was isst ein GaultMillau-Chef am liebsten, wenn er mal nicht auf Dienstreise, am Testen oder am Scouten ist? Währschafte Landgasthof-Küche, zugegebenermassen auf hohem Niveau! Drei Adressen aus meinem privaten Notizbuch und vor meiner Haustüre teile ich gerne. Erstens: Der «Adler» in Ried-Muotathal SZ. Vater Dani Jann und Tochter Romana sind meine Lieblings-Wildköche. Weil ich seit Jahren dort verkehre, kriege ich auch mal die ganz wilden Geschichten: Steinbock-Seckel beispielsweise. Zweitens: Der «Kaiserstock» in Riemenstalden SZ. Robert Gisler ist mein «Gitzi-King»: Gitzi-Ragout (geschmort werden nur Hals und Schulter), Gitzi-Leberli, Gitzi-Nierli, Gitzi-Würstli. Drittens: Die Familie Blum im «Ochsen» Roggliswil LU. Altmeister Philipp Blum wurstet selbst, nach alter Väter Sitte. Seine Leberwurst ist unfassbar gut, und ohne eine Portion Schwartenmagen verlasse ich den «Ochsen» nie.
Fotos: Digitale Massarbeit, Claudia Link, Fred Merz, Olivia Pulver, Thomas Buchwalder, keystone-sda