Text: Stephan Thomas I Fotos: Letizia Cigliutti, Orto DFusaro
Nichts wie hin! Sind wir tatsächlich ganze neun Jahre nicht mehr bei Enrico Crippa gewesen? Bei diesem Ausnahmekoch, einem der fünf besten Italiens? Dabei sitzt er in Alba, dem Nabel der italienischen Genussregion Piemont. Die Reisezeit für einen Besuch hält sich im Rahmen. Im Gegensatz zur «Osteria Francescana» von Massimo Bottura hat man hier sogar reale Chancen auf einen Tisch, falls man frühzeitig reserviert. Zumindest wenn man nicht den Fehler begeht, für die Reise den Herbst zu wählen. Da fallen nämlich alle Nordalpinen, die das Piemont auf Trüffel reduzieren, über die Gegend her, auch wenn das meist nicht die typischen Gäste von Crippa sind. So oder so passen Frühling und Sommer besser, auch wenn man einmal hohe Temperaturen in Kauf nehmen muss. Also, nichts wie hin. Grosses Bild oben: Starchef Enrico Crippa.
Kunst? Auf dem Teller. Optisch ist in der «Piazza Duomo» alles wie früher. Der Eingang zum Restaurant ist einer der diskretesten, die wir kennen. In einer Seitengasse muss man läuten, um eingelassen zu werden. Die Säle sind nüchtern gestaltetet, fast ein wenig kühl. Die Malereien an den Wänden sind etwas gewöhnungsbedürftig, wie Enrico Crippas Kunstgeschmack überhaupt. Oder ist die Weinfamilie Ceretto dafür verantwortlich, Partner von Crippa und sehr engagiert in der Kunstförderung? Es bleibt der Blick auf den malerischen Dom und den lauschigen Platz davor. Und natürlich auf die Teller, denn da befinden sich die wahren Kunstwerke.
«Seasonal things». Crippa sprüht vor Energie und Innovation - und ist trotzdem ganz der Alte. Topfit sieht er aus, kein Gramm zu viel auf der Hüfte. Er erinnert sich an eines seiner eindrücklichsten Erlebnisse, als er einmal zusammen mit Francesco Moser die Strecke des Giro-d'Italia-Zeitfahrens von Barbaresco nach Barolo fahren durfte. Allzu sehr hat da Moser wohl nicht bremsen müssen. In der Küche stehen wie eh und je Kräuter und Gemüse im Vordergrund, Fleisch und Fisch sind die Ausnahme. Die Gänge des Menüs «Seasonal Things» werden fast durchgehend nur mit einem Wort angekündigt: «Caviale», «Sorbetto», «Vongole». Manchmal sagt der Titel gar nichts über die Komponenten des Gerichts aus wie «Capriccio», was man mit «Laune» übersetzen könnte. Crippa will sich die Option offenlassen, kurzfristig auf das Marktangebot zu reagieren. Der Service erklärt dann aber die Teller haargenau.
Garten auf dem Teller. Obwohl das Menu nicht weniger als sechzehn Gänge umfasst, können wir es uns nicht verkneifen, die zwei Hausklassiker zu bestellen, die man als Extras haben kann. Die «Insalata 21...31...41...51» vereinigt so viele Salate und Kräuter, wie der Garten hergibt. Im Sommer können das locker 120 Sorten sein. Klar, dass jeder Bissen völlig anders schmeckt. Dass dieses Gericht ein wenig Michel Bras' «Gargouillou» abgeguckt ist, stört keineswegs. Die zweite Einlage ist die Kreation «Matisse» mit vielfarbigen Fetzchen auf dem Hintergrund einer weissen Pannacotta. Die Idee kam Crippa beim Betrachten von wild übereinander geklebten Plakaten, als Alba im Wahlkampf steckte. Erst später wurde das Gericht zu «Matisse» umgetauft, was ebenso gut passt.
Besprüht mit Whisky. Manchmal führt der Titel eines Gerichts in die Irre wie «Cacio e Whisky». Effektiv sind das Spaghetti, die durch eine leichte Käsesauce gezogen wurden und beim Service mit Whisky besprüht werden. Nicht nur hier blickt der Schalk durch, der typisch ist für Crippa. Bei unserem ersten Besuch hat er uns mit täuschend echt nachgebildeten Oliven hinters Licht geführt. Jetzt wiederholt er den Gag auf einer höheren Ebene: Er behandelt eine Mini-Zucchini so, dass sie aussieht wie eine Nachbildung - und sie ist echt! Das ist so witzig und geistreich, wie man es selten auf Tellern sieht.