Hotel Vitznauerhof
Kann man Fische «dry-agen» wie einen Mocken Fleisch, den man am Knochen abhängen lässt? «Natürlich», findet der holländische Koch und Zauberer Jeroen Achtien, befreit den Zander von Augen und Kiemen, reinigt und vakuumiert ihn. Der Süsswasserfisch liegt dann bei 0 Grad fünf Tage auf Eis. «Er reift, kriegt mehr Geschmack», sagt der Chef. «Ice aging» ist für diesen Paradegang allerdings erst die halbe Miete. Genial wird es, weil noch einiges dazukommt: Blumenkohl, dünne Bauernspecktranchen, mit der Pinzette serviert, fermentierte Trauben, eine beeindruckende Miso-Sauce. Und ein Gläschen Tokubetsu Honjozo. «Sake passt am besten dazu», sagt Susanne Nguyen (früher bei Tim Raue), die im «Sens» den Service leitet.
Jeroen ist keiner, der sich in der Küche versteckt. Er mag den Kontakt mit den Gästen, also bereitet er das erste Amuse-bouche draussen auf der Seeterrasse mit stoischer Ruhe und freundlicher Erklärung gleich selber zu – Caesar Salad, natürlich einer der besonderen Art: ein kleines Blatt Kopfsalat. Eingelegte Tomaten. Getrocknetes, geräuchertes und geraspeltes Eigelb. «Parmesan», nicht etwa aus Italien, sondern von der Rigi. Viel Aufwand für einen einzigen Bissen, aber wunderbar! Starter Nummer 2: «Essbare Holzkohle»! Geräucherte Peperoni stecken in der schwarzen Kugel, die man lustvoll in einen indischen Limetten-Dip tunkt. Eine fermentierte Randensauce gibt es dazu. Das Rezept kann man auf der Dose scannen und auf dem iPhone nachlesen. So geht das heute bei jungen Köchen! Der Kimchi-Taco und das Röllchen mit Chorizo und schwarzem Knoblauch waren auch prima. Ein junger Koch raspelt getrockneten und geräucherten Oktopus drüber: «Der Parmesan des Meeres!»
Start ins (Überraschungs-)Menü. Ein Dreieck im Teller! Wir entschlüsseln: rohe Saiblingstranchen, Weissspargelspitzen und Spargelsauce, Lauch, Kurkuma; ein Frischepaket zum Start. Dann zum Tatar geschredderte und zu pikanten Pralinen geformte Nordseekrabben, ziemlich ungewöhnlich kombiniert: Kalbszungenwürfel, Milchhautrolle, Rotkohl, ’Nduja (kalabresische Wurst). Keine Sorge, das passt tatsächlich. Rechtzeitig zum dramatisch schönen Sonnenuntergang über dem Vierwaldstättersee dann ein erster Knaller: Gänseleber, ungestopft! Achtien: «Ich mag Foie gras sehr. Aber gestopfte Leber im Menü – das geht heutzutage irgendwie nicht mehr. Also habe ich lange experimentiert.» Seit ein paar Tagen ist die Lösung auf dem Tisch: Der Chef greift zu geklärter Butter, der Foie-gras-Gang wird zum unglaublich sanften Löffelgericht. So geschmeidig, dass Jeroen sofort Gegensteuer gibt: Gebratene Orangenfilets, Kürbis-Kombucha und Yuzugel setzen Akzente. Auch den «Royal Belgian Caviar» gibt es nicht einfach nur so. Die Komponenten hier: Passionsfrucht (na ja!), Eigelb, Ziegenquark.
Im Hauptgang gibt’s alles vom Muotathaler Lamm, angeliefert von Hausmetzger Markus Heinzer. Erst ein frecher Bärlauch-Bao-Bun mit der kleinen, aber sehr feinen Lammbacke (!). Dann das drei Wochen lang gereifte Rückenfilet. Unter einem Sakura-Blatt liegt der zwölf Stunden lang gegarte Lammhals. Unter einem pikanten Salat entdecken wir die Lammmilke. Der Jus dazu hat Power: XO, mit Jakobsmuschelstücken drin! Souschef Marcel Koolen war im Winter für ein paar Monate in Asien, also finden sich immer wieder asiatische Komponenten im Menü. Langweilig wird es bis zum Schluss nie. Jeroen Achtien kommt nochmals raus aus der Küche, taucht Blauschimmel-Büffelkäse in Stickstoff. Der Effekt im Teller: Für ein paar Sekunden ist der Käse einfach nur kalt – dann entwickelt sich der typische Blauschimmelgeschmack. «Sûkerbôle» (Zuckerbrot) gibt es dazu, eine Spezialität aus dem holländischen Friesland; dort kommen Achtien und die halbe Küchenbrigade her. Wir stossen mit einem Glas «Six Grapes»-Porto auf einen ungewöhnlichen Abend bei einem der spannendsten Köche im Land an und haben eigentlich nur eine leise Kritik: das Timing. Viereinhalb Stunden am Tisch ist auch auf der schönsten Terrasse am Vierwaldstättersee eine Stunde zu viel.